BVG und Nationalrat in Theorie und Praxis - Schlussbemerkungen

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SCHLUSSBEMERKUNGEN

Als ich vor fünf Jahren begonnen habe, unsere Verfassung zu studieren, vertrat ich die weit verbreitete Meinung (philosophisch betrachtet ein Vorurteil), dass wir eine Verfassung haben, die ganz in Ordnung ist, aber daneben eine Realverfassung (die von den Parteien praktizierte Auslegung und Ausübung der Verfassung), die von der geschriebenen Verfassung abweicht. Mittlerweile bin ich zu dem Urteil gelangt: die Verfassung und die Realverfassung stimmen weitgehend überein.

Wie die kritische Analyse des Zweiten Hautpstückes des B-VG zeigt, haben sich die Parteien die Verfassung genau so hergerichtet, dass sie ihren Interessen, und nur ihren Interessen dient und alle ihre Machenschaften legitimiert. Ausnahme ist der Artikel 56 Absatz 1, der im direkten Widerspruch zum tatsächlich praktizierten Klubzwang steht. Die Interessen der Beamten - in den meisten Fällen Parteimitglieder - stehen über den Interessen des Volks. Die Verfassungsgesetzgebung Österreichs ist ihrem Wesen nach - nicht erst seit Kurz & Co, sondern seit den ersten Tagen der zweiten Republik - ein permanenter und systematischer Missbrauch des demokratischen Prinzips, denn Demos ist das Volk, nicht die Parteien.

Hans Richard Klecatsky [1920 -2015, Professor am Lehrstuhl für öffentliches Recht der Universität Innsbruck und von 1966 bis 1970 parteiloser Bundesminister für Justiz] hat schon in den 1970er Jahren das Bonmot geprägt: "Die österreichische Verfassung ist eine Ruine." Um in diesem Bild zu bleiben, kann man nur festhalten, dass diese Ruine in den vergangen Jahrzehnten niemals renoviert, sondern immer und immer wieder mit Bauschutt aufgefüllt wurde.

Im Widerspruch dazu steht das Bonmot von der "Schönheit und Eleganz" unserer Verfassung, mit dem Bundespräsident VdB zur Popularisierung unserer Verfassung beigetragen hat; aber nichts zu ihrem Verständnis. Sein einziges historisches Verdienst besteht darin, dass er ein Exempel statuiert hat, wie man die Herrschaftsrituale der Parteien vor und nach den Wahlen durchbricht. Er hat genau das gemacht, was Artikel 70 über die Bildung, nein, genau gesagt nur über die Einsetzung der Bundesregierung vorgibt:

Artikel 70. (1) Der Bundeskanzler und auf seinen Vorschlag die übrigen Mitglieder der Bundesregierung werden vom Bundespräsidenten ernannt. Zur Entlassung des Bundeskanzlers oder der gesamten Bundesregierung ist ein Vorschlag nicht erforderlich; die Entlassung einzelner Mitglieder der Bundesregierung erfolgt auf Vorschlag des Bundeskanzlers. Die Gegenzeichnung erfolgt, wenn es sich um die Ernennung des Bundeskanzlers oder der gesamten Bundesregierung handelt, durch den neubestellten Bundeskanzler; die Entlassung bedarf keiner Gegenzeichnung.

So hat VdB nach dem Misstrauensantrag gegen die Regierung "Kurz I" eine Kanzlerin ernannt, völlig unabhängig von parlamentarischen Mehrheitsverhältnissen. Überraschend hat das Parlament daraufhin entdeckt, wozu es eigentlich da ist: für die Gesetzgebung. Und die Regierung hat getan, was gemäß Artikel 19  ihre Aufgabe ist: das oberste Organ der Vollziehung (also der Verwaltung) zu sein. Nicht mehr und nicht weniger. Mit diesem Verständnis von Regieren hat die Kanzlerin Bierlein ganz nebenbei in einem Dreivierteljahr vier Milliarden Euro eingespart.

Wie wir schon wissen: auf eine klare Forderung folgt meist der immanente Widerspruch:

Artikel 19 (1) Die obersten Organe der Vollziehung sind der Bundespräsident, die Bundesminister und Staatssekretäre sowie die Mitglieder er Landesregierungen.

(2) Durch  Bundesgesetz kann die Zulässigkeit der Betätigung der im Abs. 1 bezeichneten Organe und von sonstigen öffentlichen Funktionären in der Privatwirtschaft beschränkt werden.

Sapere Aude! Die Leser dieses Artikels können mittlerweile selbst erklären, was alles an diesem Artikel, insbesondere Absatz (2) undemokratisch ist und der Korruption Tür und Tor öffnet! Mehr noch: Leser dieser Zeilen werden verstehen, warum derr Absatz (2) selbst  Korruption, genauer gesagt Teil der systemischen Korruption ist.

Die Nationalratsabgeordneten, von denen Ex-Neos-Abgeordnete Irmgard Griss sagte, dass 80 Prozent von ihnen die Verfassung nicht kennen, sind an einem Verfassungsdiskurs nicht im geringsten interessiert. Im Gegenteil, sie tun alles, um diesen im Keim zu ersticken. Die Maxime ihres Handelns ist der (ungeschriebene) Artikel 1 der Realverfassung: "Österreich ist eine demokratische Republik. Ihr Recht geht vom Volk aus, und kehrt daraufhin bei den Parteien ein, um deren Interessen zu dienen". Heute, 2024, gilt das nicht nur für die neosgrüne SPÖVP Einheitspartei, sondern auch für die FPÖ.

"Holen wir uns unser Österreich zurück!" Das war die Losung der FPÖ (nicht nur ihres Kandidaten) bei der BP-Wahl 2022. Diese moralische Haltung kann nur jemand vertreten, der sich daran beteiligt, unser Land als Selbstbedienungsladen zu missbrauchen. Die seit 1945 andauernde politische Praxis - der Verfassungsfilz von Realverfassung und BVG - führt im Fall eines Regierungswechsels nach bisherigen Usancen zwangsweise zur Fortsetzung dieser Mentalität. Lediglich die Personen an den Futtertrögen und Pfründen, von denen die Parteien glauben, dass sie ihnen zustehen, ändern sich.

Für mich persönlich gibt es daher bei der NR Wahl 2024 nur eine wählbare Partei. Ihr Slogan und ihr einziges politisches Programm müsste lauten: "Holen wir uns unser Parlament zurück." Das, und nur das ist nämlich Sinn und Zweck der Nationalratswahl. Die 3G-Regel eines jeden Nationalratsabgeordneten müsste lauten: Gesetzgebung + Gewaltenteilung + Gemeinwohl. Anders gesagt: Gesetzgebung basierend auf Gewaltenteilung im Interesse des Gemeinwohls.