BVG und Nationalrat in Theorie und Praxis

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(9. Februar 2024) "Österreich ist eine demokratische Republik. Ihr Recht geht vom Volk aus." So lautet der Artikel 1 der Ö Verfassung B-VG. Vielleicht werden wir noch Zeiten erleben, in denen "Artikel 1" zum Gruß aller Demokraten unseres Landes wird, so wie anno dazumal "Freundschaft" als Gruß unter Genossen linker Parteien.

Das würde allerdings voraussetzen, dass sich die große Mehrheit unseres Landes mit ihrer Verfassung identifiziert, was mit der bestehenden Verfassung bei einem Volumen von 600 Seiten inklusive Sachregister ganz und gar unmöglich ist. Ein breit angelegter Verfassungskonvent, an dem sich alle Menschen des Landes beteiligen können, und am Ende eine schlanke Verfassung mit 50 Seiten steht, wäre die Voraussetzung für eine echte Demokratie, in der "Artikel 1" zum täglichen Gruß wird. Aber das ist ein anderes Thema.

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Hier geht es um den Nationalrat und die Nationalratswahl. Was steht in der bestehenden Verfassung (Bundes-Verassungsgesetz B-VG) über die NR-Wahlen und was passiert tatsächlich? Wofür ist der Nationalrat laut B-VG zuständig und was macht er tatsächlich?

Es gibt drei große Legenden über Österreichs NR-Wahl:

1. Das Volk wählt bei NR-Wahl die Bundesregierung.

2. Die stärkste Partei hat den Anspruch auf das Amt des Kanzlers.

3. BP muss den Kanzler absegnen, den die die stärkste Partei oder eine Koalitionsregierung vorschlägt.

Aktuell kursiert in politisch engagierten Gruppen die Kanzler-Kritik: Nehammer wurde gar nicht gewählt! Man muss dazu sagen: in Österreich wurde noch nie ein Kanzler gewählt. Mehr noch: trotz ihres Volumens (u.a. hunderte Kompetenzbestimmungen, wer für Gesetzgebung und wer für Durchführung oder beides zuständig ist) findet sich in unserer Verfassung nicht ein einziger Artikel, ja nicht einmal ein Absatz zur Klärung der Frage, wie, nach welchen Modalitäten eine Bundes-Regierung zu bilden ist. Das Stichwort "Regierungsbildung" existiert nicht im Sachregister des BVG (Ausgabe 2014, Hg. Grabenwarter/Ohms). Lediglich der Begriff "Regierungsvorlagen" scheint auf (Details siehe Artikel 41). Das Thema "Religion" scheint im Vergleich dazu wesentlich wichtiger zu sein, es wird in 18 Artikeln geregelt und behandelt laut Sachregister neben "Religion" allgemein noch insbesondere "Religionsbekenntnisse", "Religionsfreiheit", "Religionsausübung", und "Religionsunterricht".

Wenn nach der nächsten NR-Wahl voraussichtlich Herbert Kickl nach den gängigen politischen Ritualen unseres Landes "den Anspruch auf das Amt des Kanzlers erheben wird", so macht er das, weil es Gewinner von Nationaratswahlen vor ihm auch so gemacht haben. Doch in der Verfassung gibt es dafür keine rechtliche Grundlage. Es gibt allerdings in der Verfassung auch kein Verbot für eine derartige Inszenieurng.

Die Lektüre der Verfassung wirft bei kritischer, philosophischer Betrachtung folgende Fragen auf:

- Was steht in der Verfassung und warum?

- Welche Artikel wurden wann ergänzt und warum?

- Was steht nicht in der Verfassung und warum nicht?

Warum werden diese für einen autonomen Denker und souveränen Bürger dieses Landes selbstverständlichen Fragen weder von Verfassungsjuristen, noch von Rechtsdogmatikern behandelt? Die Antwort darauf ist einfach: Weil diese Fragen von den Experten nicht gestellt werden.

In dieser rechtsphilosophischen Analyse geht es um eine zentrale Frage: Wird in der politischen Praxis der Artikel 1 - das Recht geht vom Volk aus - umgesetzt? Mein Urteil: Nein. Doch diese einfache und eindeutige Antwort allein reicht nicht aus, um die rechtlichen Grundlagen unserer österreichischen Demokratie und die Art und Weise ihrer parteipolitischen Umsetzung zu verstehen. Die Verfassung besteht natürlich nicht nur aus dem Artikel 1. Das komplette 2. Hauptstück von Artikel 24 bis Artikel 59b behandelt die Gesetzgebung des Bundes, betrifft also direkt den Nationalrat, sein Zustandekommen, seine Zuständigkeiten (Kompetenzen) und seine Organe.

Die erste Erwähnung der Wahlen im B-VG erfolgt bereits im Artikel 6. Hier der Artikel in voller Länge um einen Eindruck über Inhalt und Form unserer Verfassung zu vermitteln:

B-VG Artikel 6. (1) Für die Republik Österreich besteht eine einheitliche Staatsbürgerschaft.

(2) Jene Staatsbürger, die in einem Land den Hauptwohnsitz haben, sind dessen Landesbürger; die Landesgesetze können jedoch vorsehen, dass auch Staatsbürger, die in einem Land einen Wohnsitz, nicht aber den Hauptwohnsitz haben, dessen Landesbürger sind. [Anmerkung HTH: Das ist Verfassungsgesetzgebung für alle Eventualitäten. Keine klaren Aussagen wie in Artikel 1, sondern völlig überflüssige Erwägungen über mögliche Ausnahmen; die Ausnahmen und Eventualitäten werden so zur Regel der Verfassung.]

(3) Der Hauptwohnsitz einer Person ist dort begründet, wo sie sich in der erweislichen oder aus den Umständen hervorgehenden Absicht niedergelassen hat, hier den Mittelpunkt ihrer Lebensbeziehungen zu schaffen; trifft diese sachliche Voraussetzung bei einer Gesamtbetrachtung der beruflichen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lebensbeziehungen einer Person auf mehrere Wohnsitze zu, so hat sie jenen als Hauptwohnsitz zu bezeichnen, zu dem sie das überwiegende Naheverhältnis hat.

(4) In den Angelegenheiten der Durchführung der Wahl des Bundespräsidenten, von Wahlen zu den allgemeinen Vertretungskörpern und zum Europäischen Parlament, der Wahl des Bürgermeisters durch die zur Wahl des Gemeinderates Berechtigten, in den Angelegenheiten der Durchführung von Volksbegehren, Volksabstimmungen und Volksbefragungen auf Grund der Bundesverfassung oder einer Landesverfassung sowie in den Angelegenheiten der unmittelbaren Mitwirkung der zum Gemeinderat Wahlberechtigten an der Besorgung der Angelegenheiten des eigenen Wirkungsbereiches der Gemeinde gelten für die Dauer einer Festnahme oder Anhaltung im Sinne des Bundesverfassungsgesetzes über den Schutz der persönlichen Freiheit, BGBl. Nr. 684/1988, die letzten, außerhalb des Ortes einer Festnahme oder Anhaltung gelegenen Wohnsitze und der letzte, außerhalb des Ortes einer Festnahme oder Anhaltung gelegene Hauptwohnsitz vor der Festnahme oder Anhaltung als Wohnsitze beziehungsweise Hauptwohnsitz der festgenommenen oder angehaltenen Person.

Kurzfassung der wesentlichen Aussage des Absatzes (4):

In den Angelegenheiten der Durchführung [aller] Wahl[en] ...

gelten für die Dauer einer Festnahme oder Anhaltung ...

die letzten Wohnsitze als ... Hauptwohnsitz der festgenommenen oder angehaltenen Person.

Hier kommt sehr gut das Wesen unserer Verfassung zum Ausdruck: das B-VG beschäftigt sich nur selten mit Grundsätzen, sondern verliert sich in Details, Eventualitäten und Randthemen. Artikel 6 Absatz (4) betrifft derzeit rund 10.000 Menschen, von denen etwa 5.000 Ö. Staatsbürger und somit wahlberechtigt sind. Dagegen wird die wachsende Zahl demenzkranker Menschen nicht in der Verfassung und in keiner Wahlordnung des Landes erwähnt. Die Frage ist nicht nebensächlich: Wie lange kann ein Demenzkranker noch seinen eigenen Willen bei einer Wahl zum Ausdruck bringen? Da geht es um derzeit 130.000 Menschen (Tendenz steigend!) mit Potenzial für unglaubliche Manipulationen.

Wenn man über die Ö. Verfassung redet, muss man immer wieder die Frage stellen: was ist vom vielgerühmten Autor der Verfassung, Hans Kelsen, noch übrig, und was ist davon noch brauchbar? Der Absatz 4 in der zitierten Fassung stammt aus dem Jahr 2013 (Regierung Faymann I). Der Absatz 4 in der ursprünglichen Fassung 1929 hatte einen völlig anderen Inhalt: "Ein Ausländer erwirbt durch Antritt eines öffentlichen Lehramtes an einer inländischen Hochschule die Landesbürgerschaft jenes Landes, in welchem die Lehranstalt gelegen ist, und gleichzeitig das Heimatrecht an seinem Amtsorte."

Anmerkung am Rande: auf der Seite verfassungen.at findet man die Originalfassung des B-VG aus dem Jahr 1929. Die Originalversion ist in schwarzer Schrift, die Ergänzungen und Änderungen in roter Schrift. Der rote Teil beträgt rund drei Viertel des Textes. Die gesamte Verfassung in der aktuellen Fassung ist auf den Bundesservern unter ris.bka.gv.at abrufbar; und der komplette Inhalt des Zweiten Hauptstücks in einem eigenen Artikel auf ethos.at

Nun zum Zweiten Hauptstück von Artikel 24 bis Artikel 59b über die Gesetzgebung des Bundes. Es umfasst sechs Kapitel (vollständig auf ethos.at).

A. Nationalrat

B. Bundesrat

C. Bundesversammlung

D. Der Weg der Bundesgesetzgebung

E. Mitwirkung des Nationalrates und des Bundesrates an der Vollziehung des Bundes

F. Stellung der Mitglieder des Nationalrates und des Bundesrates

Hier eine detaillierte rechtsphilosophische Analyse und Kritik von A, D, E und F.