BVG und Nationalrat in Theorie und Praxis - E. Mitwirkung

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E. Mitwirkung des Nationalrates und des Bundesrates an der Vollziehung des Bundes, ursprünglich Artikel 50-55, im laufe der Jahrzehnte erweitert durch Artikel 50a-d, 51a-d, 52a+b.

Der Artikel 50 bestimmt noch ganz harmlos, dass der Abschluss von politischen Staatsverträgen und Staatsverträgen (sic! worin auch immer der Unterschied liegen mag, das B-VG erklärt diesen nicht) nur mit Zustimmung des Nationalrates möglich ist; "bedarf der Genehmigung des Nationalrates", so der Wortlaut, der seine Kontrollfunktion zum Ausdruck bringt.

Eine deutlich andere Sprache verwendet Artikel 50a. Der Nationalrat wirkt in Angelegenheiten des Europäischen Stabilitätsmechanismus mit.

Dieser und folgende Artikel bis 50d wurden 2012 infolge der Finanzkrise ergänzt.

Artikel 50b. Ein österreichischer Vertreter im Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) darf

1. einem Vorschlag für einen Beschluss, einem Mitgliedstaat grundsätzlich Stabilitätshilfe zu gewähren,

2. einer Veränderung des genehmigten Stammkapitals und einer Anpassung des maximalen Darlehensvolumens des Europäischen Stabilitätsmechanismus sowie einem Abruf von genehmigtem nicht eingezahlten Stammkapital und

3. Änderungen der Finanzhilfeinstrumente

nur zustimmen oder sich bei der Beschlussfassung enthalten, wenn ihn der Nationalrat auf Grund eines Vorschlages der Bundesregierung dazu ermächtigt hat. In Fällen besonderer Dringlichkeit kann der zuständige Bundesminister den Nationalrat befassen. Ohne Ermächtigung des Nationalrates muss der österreichische Vertreter den Vorschlag für einen solchen Beschluss ablehnen.

An der Stelle wird die Verfilzung von Exekutive und Legislative endgültig zum Verfassungsprinzip. Die Gewaltenteilung lebt in unserer politischen Realität nur noch als philosophisches Ideal und als verfassungsjuristisches Theorem. Ein Verfassungsexperte wie Ludwig Adamovich, der bis heute im Alter von 92 Jahren (Stand Februar 2024) immer noch als (ehrenamtlicher?) Berater für unseren Bundespräsidenten tätig ist, sieht diese Problematik natürlich auch. Und findet dafür umgehend eine Erklärung, um dieses gravierende Problem zu verniedlichen:

"Als Mitwirkung der Gesetzgebung an der Vollziehung gelten jene Fälle, bei denen Akte der Vollziehung, insbes. der Verwaltung, im Zusammenwirken von Organen der Gesetzgebung und Organen der Vollziehung erzeugt werden. Es handelt sich dabei um Erscheinungsformen von Gewaltenverbindung, die als Ausnahmen vom Grundsatz der Trennung zwischen Gesetzgebung und Vollziehung einer besonderen verfassungsrechtlichen Begründung bedürfen." (Verfassungsrecht, S 202)

So geht Verfassungsrecht, würde man heute wohl sagen. Die Gewaltenteilung gilt prinzipiell, außer bei "Erscheinungsformen". Eine unbekannte, nicht eingeplante (oder beabsichtigte) "Erscheinungsform" bekommt ganz einfach einen neuen Namen, in dem Fall "Gewaltenverbindung". Das Problem wird nicht etwa durch Bereinigung eines inneren Widerspruches, durch eine vernünftige Gesetzesänderung gelöst. Wie wir mittlerweile wissen, sind Gesetzesänderungen nur dazu da, die Interessen und Pfründe der Parteien zu erweitern oder zumindest abzusichern. Für die Lösung von Widersprüchlichkeiten sind die Verfassungsexperten zuständig und zwar dadurch, dass sie eine "besondere verfassungsrechtliche Begründung" liefern.

Artikel 50c. (1) Der zuständige Bundesminister hat den Nationalrat unverzüglich in Angelegenheiten des Europäischen Stabilitätsmechanismus gemäß den Bestimmungen des Bundesgesetzes über die Geschäftsordnung des Nationalrates zu unterrichten. Durch das Bundesgesetz über die Geschäftsordnung des Nationalrates sind Stellungnahmerechte des Nationalrates vorzusehen.

(2) Hat der Nationalrat rechtzeitig eine Stellungnahme in Angelegenheiten des Europäischen Stabilitätsmechanismus erstattet, so hat der österreichische Vertreter im Europäischen Stabilitätsmechanismus diese bei Verhandlungen und Abstimmungen zu berücksichtigen. Der zuständige Bundesminister hat dem Nationalrat nach der Abstimmung unverzüglich Bericht zu erstatten und ihm gegebenenfalls die Gründe mitzuteilen, aus denen der österreichische Vertreter die Stellungnahme nicht berücksichtigt hat.

Das Prinzip, Gesetze für alle Eventualitäten zu formulieren, erreicht hier seinen Höhepunkt und Tiefpunkt gleichzeitig. Dass Gesetze Eventualitäten berücksichtigen, ist manchmal nachvollziehbar. Was hier passiert, geht aber nochmals einen Schritt weiter. Absatz 2 bestimmt, wie ein Vertreter im ESM gemäß Stellungnahme des NR abzustimmen hat und weist dann umgehend den Minister an, was zu tun ist, wenn dieser Vertreter nicht so abstimmt wie es von den Volksvertretern vorgegeben wurde. Der Minister soll den ESM-Vertreter nicht etwa entlassen, oder irgendwie sanktionieren, sondern hat "gegebenenfalls die Gründe mitzuteilen"!

Gesetzgebung insgesamt, aber insbesondere Verfassungsgesetzgebung dieser Art kann man nur noch als Larifari bezeichnen. Philosophische Begriffe wie "vernunftwidrig", "irrational", "undemokratisch" implizieren, wenn auch in Negation, immer noch die Existenz von "Vernunft", "Rationalität" und "Demokratie". Hier aber haben wir es mit der völligen Abwesenheit dieser geistigen Errungenschaften einer aufgeklärten Zivilisation zu tun.

Es erübrigt sich, an der Stelle darauf hinzuweisen, dass die Artikel 50 a-d mit keinem einzigen Wort erklären, was der Europäische Stabilitätsmechanismus (ESM) ist, warum er geschaffen wurde, wie er funktioniert, und warum diese Vereinbarung in Österreich (jedoch in keinem anderen EU-Land) in Verfassungsrang zu heben war!

Aufklärung darüber liefert hierzulande einzig und allein ethos.at mit dem Artikel "ESM-Bank garantiert die Transferunion", ein Kapitel aus dem Buch "Das Amerika-Syndikat" von Wolfgang Freisleben, das 2017 erschienenen ist. 

Zurück zu den Verfassungsartikeln, die ihrem Wesen nach Verfilzungsartikel sind.

Artikel 51. (1) Der Nationalrat beschließt das Bundesfinanzrahmengesetz sowie innerhalb dessen Grenzen das Bundesfinanzgesetz; den Beratungen ist der jeweilige Entwurf der Bundesregierung zugrunde zu legen.

In neun Absätzen werden wiederum Details geklärt oder zumindest erörtert, die genauso gut in einfachen Gesetzen stehen könnten. Absatz (8) hier im Wortlaut: Bei der Haushaltsführung des Bundes sind die Grundsätze der Wirkungsorientierung insbesondere auch unter Berücksichtigung des Ziels der tatsächlichen Gleichstellung von Frauen und Männern, der Transparenz, der Effizienz und der möglichst getreuen Darstellung der finanziellen Lage des Bundes zu beachten.

Gut zu wissen, dass die Grundsätze der Wirkungsorientierung von Budgets, also die Frage, wie hoch die Mittel für Gesundheit, Sicherheit oder Bildung sein sollen und wie diese zu verwenden sind, nur "unter Berücksichtigung des Ziels der tatsächlichen Gleichstellung von Frauen und Männern" erreicht werden können.

Artikel 51a. (1) Hat die Bundesregierung dem Nationalrat nicht rechtzeitig (Art. 51 Abs. 2 und 3) den Entwurf eines Bundesfinanzrahmengesetzes oder eines Bundesfinanzgesetzes vorgelegt, so kann ein Entwurf eines Bundesfinanzrahmengesetzes oder eines Bundesfinanzgesetzes im Nationalrat auch durch Antrag seiner Mitglieder eingebracht werden.

Die Verfassungszusätze 51a-d stammen aus dem Jahr 2008 (Finanzminister war Wilhelm Molterer), als die Banken plötzlich aufhörten die Welt mit Krediten zu "versorgen" und das Finanzministerium offenbar nicht mehr imstande war, zeitgemäß ein Budget zu erstellen. Was liegt da näher, als umgehend die Verfassung zu erweitern, und diese Eventualität in der Verfassung zu verewigen? Nichts liegt näher, wenn man in Österreich lebt, im Land mit der besten Verfassung dieser Welt - so sehen das zumindest Verfassungsexperten.

Immerhin sieht der Artikel 52 noch klare Kontrollrechte vor (die Experten sprechen vom Interpellationsrecht):

Artikel 52. (1) Der Nationalrat und der Bundesrat sind befugt, die Geschäftsführung der Bundesregierung zu überprüfen, deren Mitglieder über alle Gegenstände der Vollziehung zu befragen und alle einschlägigen Auskünfte zu verlangen sowie ihren Wünschen über die Ausübung der Vollziehung in Entschließungen Ausdruck zu geben. ...

... (3) Jedes Mitglied des Nationalrates und des Bundesrates ist befugt, in den Sitzungen des Nationalrates oder des Bundesrates kurze mündliche Anfragen an die Mitglieder der Bundesregierung zu richten.

Artikel 53. (1) Der Nationalrat kann durch Beschluss Untersuchungsausschüsse einsetzen. Darüber hinaus ist auf Verlangen eines Viertels seiner Mitglieder ein Untersuchungsausschuss einzusetzen....

Der letzte Artikel dieses Kapitels regelt in fünf Absätzen das wichtigste Organ des Parlaments: Artikel 55. (1) Der Nationalrat wählt aus seiner Mitte nach dem Grundsatz der Verhältniswahl den Hauptausschuss.

Der Artikel 54 fehlt im der österreichischen Bundes-Verfassungsgesetz. Das könnte man als kleine Marotte abtun, aber ethos.at hat genauer hingeschaut und in der Ur-Verfassung folgenden Artikel 54 gefunden: "Der Nationalrat wirkt an der Festsetzung von Eisenbahntarifen, Post-, Telegraphen- und Fernsprechgebühren und Preisen der Monopolgegenstände sowie von Bezügen der in Betrieben des Bundes ständig beschäftigten Personen mit. Diese Mitwirkung wird durch Bundesverfassungsgesetz geregelt."

Fast jeder zahlt heute für seine digitale Kommunikation mit einer Flatrate und wir alle (die es noch erlebt haben) können über die Begriffe "Telegraphen- und Fernsprechgebühren" und auch die Höhe der Gebühren anno dazumal herzlich lachen. Doch bei den Postgebühren kann einem das Lachen wieder vergehen. Und noch viel mehr vergeht einem das Lachen, wenn wir realisieren, dass eine derart gravierende Entscheidung, ob man Betriebe oder Organisationen privat oder staatlich führt nicht über einen einzigen Zusatzartikel in der Verfassung geregelt wurde!

Heute, da wir gute Erfahrungen mit der Telekom-Privatisierung, mittelprächtige Erfahrungen mit der Rundfunkprivatisierung (an der Stelle lediglich mein ceterum censeo: Die Bevorzugung des ORF ist verfassungswidrig!) und schlechte Erfahrungen mit der Privatisierung des Strommarktes gemacht haben, wäre es höchst an der Zeit, grundsätzlich darüber nachzudenken, welche Leistungen nach der klassischen Unterscheidung "staatlich", welche "privat" erbracht werden sollen. "Mehr privat weniger Staat" schwebt immer noch als Ideal der Marktwirtschaft über uns, doch die "freie Marktwirtschaft" wurde längst usurbiert von der Allmacht der internationalen Konzerne, der Finanzindustrie und ihren Vasallen in den Vorhöfen der Politik (Medien), in den Hinterhöfen der Politik (Lobbys), sowie direkt in den Parteien.

Unsere Verfassung der Zukunft muss daher klären, welche Bereiche "privat" (gewinnorientiert) zu organisieren sind, und welche "staatlich" (gemeinwohlorientiert, z.B: genossenschaftlich oder körperschaftlich). Aber das ist ein anderes Thema, hier geht es noch einmal um den Nationalrat und das letzte Kapitel des Zweiten Hauptteils: