BVG und Nationalrat in Theorie und Praxis - F. Mandatare

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F. Stellung der Mitglieder des Nationalrates und des Bundesrates

Dieses Kapitel beginnt wieder einmal beeindruckend klar und deutlich:

Artikel 56. (1) Die Mitglieder des Nationalrates und die Mitglieder des Bundesrates sind bei der Ausübung dieses Berufes an keinen Auftrag gebunden.

Ich hoffe, alle Leser dieser kritischen Abhandlung stimmen zu, dass diese Bestimmung im direkten Widerspruch zur üblichen Praxis des Klubzwangs steht. Sogar die Verfassungsjuristen und Herausgeber des B-VG, Christoph Grabenwarter (derzeit Vorsitzender des Verfassungsgerichtshofs) und Brigitte Ohms haben sich hier eine Anmerkung erlaubt. Vorsichtig kursiv und unter Anführungszeichen: "Prinzip des 'freien Mandats'". Adamovich/Funk bestätigen explizit, dass "von einem 'freien Mandat' der Abgeordneten in den allgemeinen Vertretungskörpern im ursprünglichen Sinn nur mehr sehr eingeschränkt gesprochen werden" kann (Verfassungsrecht, S 224). Umgehend auf die Kritik folgt jedoch die verfassungsjuristische Kapitulation: "Mit juristischen Erwägungen ist diese Aushölung des freien Mandats durch parteien- und verbändestaatliche Entwicklungen kaum zu bewältigen". (Verfassungsrecht S 225)

Jedenfalls entlarvend der abschließende Kommentar zum Artikel 56: "Zu erwägen ist auch, ob nicht privatrechtliche Willenserklärungen eines Abgeordneten, die der Sicherung der Klubdisziplin dienen sollen (etwa in Form der in der Praxis übliche Abgabe von undatierten, der Parteiführung zur bedarfsweisen Verwendung überlassenen Erklärungen des Mandatsverzichts), dem Art 56 B-VG zuwiderlaufen und daher gem § 879 Abs 1 ABGB als nichtig anzusehen sind." (Verfassungsrecht S 225)

Diese Ausführungen liegen wohlgemerkt 40 Jahre zurück. Aus der Sicht des Jahres 2024 muss man feststellen, dass im Rahmen des Parlaments derartige Erwägungen noch nie stattgefunden haben. Zwar ist sicher, dass alle Abgeordneten der Überzeugung sind, dass der Klubzwang verfassungswidrig ist; doch ebenso sicher ist, dass sie diese Überzeugung immer erst dann artikulieren, nachdem sie aus dem Parlament ausgeschieden sind. (Zuletzt Ex-Vizekanzler der ÖVP, Reinhold Mitterlehner, in seiner politischen Abrechnung/Autobiografie "Haltung", 2019)

Bemerkenswert ist auch die Tatsache, dass die Verfassung die Volksvertretung als "Beruf" bezeichnet, während immer noch viele Abgeordnete ihr Mandat als Nebenjob mit Zusatzeinkommen betrachten. Soweit so ungut, denn wie nach bisheriger Lektüre nicht anders zu erwarten, führen die folgenden zwei Absätze auf ein Nebengleis, das in jeder anderen Demokratie sofort stillgelegt werden würde. Doch die Fundamente unseres Staates würden ins Wanken geraten, wenn die folgenden Details nicht in der Verfassung geregelt wären!

Artikel 56. (2) Hat ein Mitglied der Bundesregierung oder ein Staatssekretär auf sein Mandat als Mitglied des Nationalrates verzichtet, so ist ihm nach dem Ausscheiden aus diesem Amt, in den Fällen des Art. 71 nach der Enthebung von der Betrauung mit der Fortführung der Verwaltung, von der zuständigen Wahlbehörde das Mandat erneut zuzuweisen, wenn der Betreffende nicht gegenüber der Wahlbehörde binnen acht Tagen auf die Wiederausübung des Mandates verzichtet hat.

(3) Durch diese erneute Zuweisung endet das Mandat jenes Mitgliedes des Nationalrates, welches das Mandat des vorübergehend ausgeschiedenen Mitgliedes innegehabt hat, sofern nicht ein anderes Mitglied des Nationalrates, das später in den Nationalrat eingetreten ist, bei seiner Berufung auf sein Mandat desselben Wahlkreises gegenüber der Wahlbehörde die Erklärung abgegeben hat, das Mandat vertretungsweise für das vorübergehend ausgeschiedene Mitglied des Nationalrates ausüben zu wollen.

(4) Abs. 2 und 3 gelten auch, wenn ein Mitglied der Bundesregierung oder ein Staatssekretär die Wahl zum Mitglied des Nationalrates nicht angenommen hat.

Artikel 57 regelt mit größtmöglicher Umständlichkeit die Immunität der Nationalräte, der Artikel 58 kurz und bündig die Immunität der Bundesräte.

Artikel 59. Kein Mitglied des Nationalrates, des Bundesrates oder des Europäischen Parlamentes kann gleichzeitig einem der beiden anderen Vertretungskörper angehören.

Damit hätten wir abschließend nochmals ein klares Statement! Wären da nicht die Zusätze Artikel 59a und Artikel 59b aus dem Jahr 1996 (Regierung Vranitzky V):

Artikel 59a. (1) Dem öffentlich Bediensteten ist, wenn er sich um ein Mandat im Nationalrat bewirbt, die für die Bewerbung um das Mandat erforderliche freie Zeit zu gewähren. ....

Hier haben sich die öffentlich Bediensteten, die im Nationalrat in übermäßig großer Anzahl vertreten sind, nicht entblödet, ihrer eigenen Kaste Sonderrechte in die Verfassung zu schreiben, die - wenn überhaupt - in der Geschäftsordnung des Parlament oder im Dienstrecht der Beamten zu klären sind. Wenn aber allen Menschen unseres Landes (und das impliziert alle Abgeordneten!) klar wäre, dass die Ausübung eines Mandates gemäß Artikel 56 ein Beruf ist (ein Fulltimejob, um es auch der heutigen Jugend zu erklären), so dürfte in einer echten Demokratie Artikel 56 Absatz 2 (wahlweise der Artikel 57) nur einen Wortlaut haben: Jegliche bezahlte oder ehrenamtliche Beschäftigung (jeder Nebenjob) in kommerziellen Unternehmen oder nichtkommerziellen Organisationen ist mit einem Mandat im NR und BR unvereinbar."