Die Wissenschaft als Campaigning-Instrument
Pellets. Kapitel 1 - 4. Mai 2022 - Vor sechs Jahren hat BirdLife ein kurzes Video mit dem Titel "Bioenergy: the big carbon con of our time?" ins Netz gestellt. Auch wenn die Message in dem Video noch als Frage getarnt wird, so ist es offensichtlich eine Suggestiv-Frage. Zehn Statements wie "zerstörerische Bioenergie kommt vor: jetzt in Europa" und die Wiederholung der Frage "ist Bioenergie der große Kohlenstoff-Betrug unserer Zeit?" am Ende des Videos lassen nur eine Antwort zu: Ja!
Weniger als 2.000 Personen haben dieses Video bis heute auf youtube abgerufen. Doch BirdLife ist eine Organisation für Vogelschutz und Artenvielfalt, die weltweit 2,5 Millionen Mitglieder und 116 Partnerorganisationen hat, darunter so einflussreiche wie die britische Royal Society for the Protection of Birds, die japanische Wild Bird Society, in den USA die National Audubon Society sowie die American Bird Conservancy. Zeitgleich mit dem Video hat BirdLife den Artikel "Bioenergy: The Good, the Bad & the Ugly" publiziert. Die zentrale Message: "Die Politik, die das rasche Wachstum der Bioenergienutzung vorantreibt, muss das Gute vom Schlechten trennen und die hässliche Wahrheit hinter den realen Klimaauswirkungen der Bioenergie erkennen."
Siehe auch: Pellet-Story: Best Practice of Austria
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Man kann davon ausgehen, dass diese Message intensiv an alle Mitglieder von BirdLife kommuniziert und über alle Partner-Organisationen multipliziert wurde. Seither schwelt das Feuer, Wissenschafter und Lobbyisten, Unternehmen und NGOs führen mehr oder weniger hitzige Diskussionen über die Nutzung von Biomasse (vorwiegend Holz) zur Energie-Gewinnung. Doch erst zu Beginn dieses Jahres (2021) ist das Feuer richtig ausgebrochen. Hier die Chronologie der jüngsten Statements, die Öl ins Feuer gießen. Rapsöl, Palmöl oder Erdöl sei dahingestellt.
Wissenschafter als Influencer
Am 9. Dezember 2020, noch rechtzeitig vor der Weihnachtspause, senden vierzehn Umweltschutzorganisationen einen Brief an den Vizepräsidenten der EU-Kommission, Frans Timmermans, sowie an sieben weitere EU-Kommissare. Am Anfang steht die Aufforderung, die EU-Richtlinie RED (Renewable Energy Directive) zu überdenken: "Seit vielen Jahren fördert die EU-Politik die Verbrennung verschiedener Arten von Bioenergie, die die Emissionen im Vergleich zu fossilen Brennstoffen erhöhen. Die Mitgliedstaaten subventionieren diese schädliche Industrie jährlich mit Milliarden Euro. Die äußerst negativen unbeabsichtigten Folgen der EU-Biokraftstoff-Politik werden bereits seit einiger Zeit diskutiert, aber die Auswirkungen der EU-Fördergelder für die Verbrennung von Biomasse aus den Wäldern sind nicht weniger alarmierend oder kontraproduktiv."
An der Stelle verweisen die Autoren auf acht Fotos im Anhang. Zu sehen sind zwei gerodete Waldflächen, drei mit Holzstämmen beladene Lkw sowie drei Holz-Lagerflächen von Pellet- Produzenten. Die Auswahl der Fotos stammt aus den Jahren 2017 bis 2020. Man musste offenbar lange suchen, um suspektes Material zu finden. Nach einem Verweis auf die Position der Wissenschaft (dokumentiert mit einem Brief von Wissenschaftern an EU-Parlamentarier vom 4. Juni 2018) kritisieren die NGOs die Bestimmungen von RED: "Solange die EU ihre Politik im Bereich der Bioenergie nicht ernsthaft reformiert, wird diese Politik unsere Klima- und Biodiversitäts-Ziele sowie unser Engagement für nachhaltige Entwicklungsziele weiterhin untergraben und dem internationalen Ruf der EU schweren Schaden zufügen."
An erster Stelle der vierzehn Unterzeichner dieses Briefes steht Ariel Brunner, Direktor von Birdlife Europe, gefolgt von Debbie Hammel, Direktorin bei Natural Resources Defense Council (NRDC) mit Sitz in New York, sowie Julia Christian, zuständig für Campaigning bei der niederländischen NGO Fern. Wo sich BirdLife engagiert, dort ist auch die Organisation Transport & Environment nicht weit und meist auch Dogwood Alliance anzutreffen. Stark involviert in alle Waldschutz-Aktivitäten, so auch hier, sind WWF und Robin Wood.
Vier Monate später, am 21. April 2021, geht der nächste offene Brief an die nächsthöhere Etage, und zwar an die EU-Kommissions-Präsidentin Ursula von der Leyen, sowie Kopien an den US-Präsidenten Joe Biden und die Regierungschefs von Frankreich, Deutschland, Italien, Polen und Dänemark. Diesmal führt Robin Wood die Liste der mittlerweile 69 Unterzeichner an.
Nach höflicher Erwähnung der Fortschritte der EU im Kampf gegen den Klimawandel, kommen die Autoren des Briefes im zweiten Absatz zur Sache: "Obwohl es wichtig ist, von fossilen Brennstoffen auf erneuerbare Energiequellen umzusteigen, befindet sich die EU in Bezug auf die Rolle der Bioenergie und die Zukunft der Wälder auf einem gefährlichen Weg. Wir sind zutiefst besorgt darüber, dass die Europäische Kommission die Verbrennung von Biomasse aus Wäldern immer noch als 'erneuerbare' Energie in ihrer Richtlinie über erneuerbare Energien (RED II) inkludiert hat."
Mit Verweis auf Forschungsergebnisse des von der EU finanzierten Forschungszentrums JRC heißt es weiter: "Die Ernte und Verbrennung von Waldbiomasse produziert zusätzliches CO2, anstatt es zu reduzieren, und schadet den stark geschädigten Wäldern der EU noch weiter, wodurch die Kohlenstoffbestände der Wälder untergraben und Ökosysteme unter Verstoß gegen die Ziele der EU-Biodiversitätsstrategie geschädigt werden. Die Auswirkungen der EU-Richtlinie RED II sind auch im Ausland sichtbar, da Wälder abgeholzt, zu Pellets verarbeitet und in europäischen Kraftwerken verbrannt werden. Hinzu kommt, dass die Holzverbrennung eine der Hauptursachen für die Luftverschmutzung ist, die bereits jedes Jahr Hunderttausende EU-Bürger tötet. Perverser Weise stellen die Mitgliedstaaten jedes Jahr Subventionen in Milliardenhöhe bereit, womit sie die Verarbeitung von Wäldern zu Kraftstoff unterstützen."
Die Lösung der Umweltschutz-Organisationen: "Die billigste und effektivste Klima-Lösung besteht darin, Wälder älter werden zu lassen und den Holzeinschlag insgesamt zu reduzieren. Natürliche Wälder, die altern dürfen, wirken wie eine Kohlenstoffbank, während die Verbrennung von Waldbiomasse zur Energiegewinnung die Wälder effektiv in 'neue Kohle' verwandelt."
Beide Briefe wurden orchestriert von 40.000 Unterschriften für eine Petition mit dem einprägsamen Slogan "Don’t burn wood, don’t burn food. Stop fake renewables!" Mehrere Absätze der Petition decken sich mit dem offenen Brief an Timmermans, die übrigen Ausführungen sind von einem kämpferischen Sprachduktus geprägt: "Dieses Gesetz [Anm: RED] ist eine Katastrophe für die Umwelt. Um Subventionen zu erhalten, tauchen riesige Unternehmen auf, die unsere verbliebenen Wälder abholzen und das Wenige pflügen, was von unseren Weiden und Wiesen übrig geblieben ist. Und alte, schmutzige Kohlekraftwerke werden auf magische Weise in 'saubere Energie' verwandelt. All dies wird mit unserem Steuergeld subventioniert."
Weniger kämpferisch aber durchaus emotional ist der Brief, unterzeichnet von 500 internationalen Wissenschaftern, der am 11. Februar veröffentlicht wurde. Auch diese Post geht an die Präsidenten Joe Biden (USA), Urusla von der Leyen (EU), weiters an die Präsidenten Louis Michel (Europäischer Rat) und Moon Jae-in (Südkorea), sowie an den Premierminister Japans, Yoshihide Suga.
Um die Kohlenstoffneutralität in Europa, den USA, Japan und Korea bis 2050 zu erreichen, empfehlen die Wissenschafter schon einleitend: "Die Erhaltung und Wiederherstellung von Wäldern sollten Schlüssel-Instrumente sein, um dieses Ziel zu erreichen und gleichzeitig unsere globale Biodiversitätskrise zu bewältigen. Wir fordern Sie dringend auf, sowohl die Klimaziele als auch die biologische Vielfalt der Welt nicht zu unterminieren, indem Sie dazu übergehen, statt fossiler Brennstoffe Bäume zu verheizen, um Energie zu gewinnen."
Bislang seien Strom und Wärme-Energie in der Papier- und Holzproduktion nur als Nebenprodukte angefallen. Diese Verwendung habe nicht zur Ausweitung der Holzernte geführt. Doch in den letzten Jahren sei es zu einer Fehlentwicklung gekommen, "ganze Bäume zu fällen oder große Teile des Stammholzes für Bioenergie abzuzweigen, wodurch Kohlenstoff freigesetzt wurde, der sonst in Wäldern gespeichert bliebe. Das Ergebnis dieser zusätzlichen Holzernte ist ein starker initialer Anstieg der Kohlenstoff-Emissionen, wodurch eine 'Kohlenstoff-Schuld' entsteht, die mit der Zeit zunimmt, da mehr Bäume für den laufenden Bioenergie-Einsatz geerntet werden. Nachwachsende Bäume und die Verdrängung fossiler Brennstoffe könnten diese Kohlenstoff-Schulden eventuell irgendwann begleichen, aber das Nachwachsen braucht Zeit, welche die Welt nicht mehr hat, um den Klimawandel zu beenden. Wie zahlreiche Studien gezeigt haben, wird diese Holzverbrennung die Erwärmung für Jahrzehnte bis Jahrhunderte erhöhen. Das gilt auch dann, wenn Kohle, Öl oder Erdgas durch Holz ersetzt werden."
Außerdem wird - wie schon im Brief an Timmermans - behauptet, dass Holz bei der Erzeugung von Energie mehr CO2 frei setzt als die Verwendung fossiler Brennstoffe. Anstelle eines Beweises folgt eine wage Vermutung: "Insgesamt dürfte die Verwendung von Holz für jede erzeugte Kilowattstunde Wärme oder Strom zunächst zwei- bis dreimal so viel Kohlenstoff in die Luft bringen wie die Verwendung fossiler Brennstoffe." Weitgehend unbestritten, wenn auch nicht wissenschaftlich exakt formuliert, ist das folgende Statement: "Die Zunahme der Erderwärmung in den nächsten Jahrzehnten ist gefährlich."
Erderwärmung führe zu direkten Schäden an der Umwelt, nicht nur zu mehr Waldbränden, sondern auch zum Schmelzen der Gletscher und zum Auftauen von Permafrostböden. "Diese Schäden werden nicht rückgängig gemacht, selbst wenn wir den Kohlenstoff in den kommenden Jahrzehnten entfernen." Das klingt nach Ausweglosigkeit, doch die Autoren geben nicht auf: "Staatliche Subventionen für die Holzverbrennung schaffen ein doppeltes Klimaproblem, weil diese falsche Lösung echte CO2-Reduktionen verdrängt. Unternehmen ersetzen die Nutzung fossiler Energien durch Holz, was die Erwärmung erhöht, statt Ersatz durch Umstellung auf Solar- und Windenergie, was die Erwärmung wirklich verringern würde."
Daraus folgt abschließend ein Appell an die Machthaber: "Ihre Entscheidungen in der Zukunft sind von großen Folgen für die Wälder der Welt, denn wenn die Welt nur zwei Prozent ihrer Energie aus Holz liefert, müsste sie ihre kommerziellen Holzernten verdoppeln. [...] Bäume sind wertvoller lebendig als tot, sowohl für das Klima als auch für die Biodiversität. Um die zukünftigen Null-Emissions-Ziele zu erreichen, sollten Ihre Regierungen daran arbeiten, Wälder zu erhalten und wiederherzustellen anstatt sie zu verbrennen."
Lediglich 59 Wissenschafter legen einen Monat später nach. In ihrem Brief an Michel, Timmermans und von der Leyen nehmen sie Bezug auf ein Schreiben des Rechtsprofessors Blake Hudson, das bis dahin in Europa zwar niemand kannte, das man aber offenbar kennen sollte. Die Wissenschafter provozierend aber der Logik des Marktes folgend schreibt er: "Holzbasierte Bioenergie unterstützt Märkte, die dazu beitragen, unsere Wälder vor der Umwandlung in andere Nutzungen zu schützen."
Der Rechtsprofessor an der Universität von Florida publiziert seit vielen Jahren über die rechtlichen und wirtschaftlichen Belange der Forstwirtschaft. Am 15. Februar 2021 erschien auf euractiv.com sein Artikel mit dem Titel "To keep forests intact, we must use them" unterstützt von der U.S. Industrial Pellet Association. Mit Verweis auf eine Studie aus dem Jahr 2013 sieht Hudson positive Auswirkungen der Waldwirtschaft auf den Klimawandel: "Insgesamt könnte die Expansion des Holzmarktes die weltweiten Nettoemissionen um bis zu 31 Prozent senken. Dies ist auf ein grundlegendes Prinzip zurückzuführen, das fest in der wissenschaftlichen und wirtschaftlichen Analyse verankert ist und auch in der Forstpolitik berücksichtigt werden sollte: die Märkte für Produkte der Forstwirtschaft veranlassen Waldbesitzer zu Investitionen, die die Fläche und die Produktivität der Wälder steigern. Diese Investitionen können den mit der Ernte verbundenen Kohlenstoffausstoß ausgleichen und die Gefahr der Umwandlung von Wäldern für andere Landnutzungen verringern."
forestdefenders.eu zitiert am 11. März 2021 die Antwort der erwähnten 59 Wissenschafter: "Dies ist ein beliebter Standpunkt der US-Holzpelletindustrie, deren Interessen Hudson vertritt. Es gibt aber nur eine geringe Evidenz für die Behauptung der Industrie, dass die wachsende Nachfrage nach Holz helfen würde, natürliche Wälder zu erhalten." Die Wissenschafter äußern Bedenken, dass die steigende Nachfrage in Europa auf Kosten des Waldbestandes im Süden der USA gehen könnte, weil "die EU-Mitgliedstaaten die Nutzung ihrer Waldflächen streng regulieren, so dass es derzeit keine Entwaldungstendenz in der EU gibt. "
Wenig Resonanz in Deutschlands Massenmedien
Im Deutschen Sprachraum blieben diese Initiativen und die aktuellen Kontroversen über Bioenergie von den Massenmedien bislang unbeachtet. Ganz anders im anglo-amerikanischen Raum: renommierte Medien wie The Guardien, The New Yorker, New York Times. haben das Thema aufgegriffen. Weiters Politico und Natural Gas World, die nicht zu den Massenmedien zählen, aber einflussreich sind, weil sie viele Opinion Leader erreichen.
Eine Ausnahme ist die folgende Story, die am 14. Januar 2021 von The Guardian publiziert wurde. Fünf Tage später brachte "Die Zeit" das gleiche Thema. Dahinter steht eine cross-border Recherche mehrerer Journalisten, die auf einer eigenen Internetseite ihre Brandspuren hinterlassen haben und zwar unter der Headline: "Money to burn". Die feurigen Schlagzeilen in The Guardian: "Carbon-neutrality is a fairy tale: how the race for renewables is burning Europe's forests", und in Die Zeit "Wälder, verheizt im Namen des Klimas".
Nach den Regeln der klassischen Reportage beginnt die Guardian-Story mit einer Stimmungs-Schilderung vom Ort des Geschehens "im Herzen des estnischen Naturschutzgebiets Haanja", die abrupt unterbrochen wird von hard facts: "Doch 2015 erlaubte die estnische Regierung in einigen Teilen des Naturschutzgebiets Haanja das, was als Clear-Cutting bekannt ist. Diese Praxis beinhaltet das Fällen ganzer Bereiche des voll entwickelten Waldes und den Abtransport ganzer Baumstämme." Die Lockerung der Regeln für den Holzeinschlag erfolgte aufgrund der massiv steigenden internationalen Nachfrage nach estnischem Holz. Dafür gibt es einen "unerwarteten Schuldigen: Europas Politik im Bereich der erneuerbaren Energien." Treiber der Nachfrage seien vorwiegend Dänemark, die Niederlande und Großbritannien.
In Estland seien zwischen 2001 und 2019 insgesamt 15.000 Hektar aus den Natura-2000-Gebieten abgeholzt worden, das sei "mehr als die doppelte Fläche von Manhattan". 80 Prozent davon entfalle auf die vergangenen fünf Jahre. Vergleiche mit Städten oder Regionen, die dem Leser bekannt sind, zählen zum üblichen Repertoir von Journalisten, ebenso wie der Vergleich mit der Anzahl von Fußballfeldern. Das erspart fundierte Argumente und lenkt von sachlicher Prüfung der Fakten ab. In solchen Fällen sollte man einfach nachrechnen: in den vergangenen fünf Jahren wurden je 2.400 Hektar Wald (80 Prozent von 15.000 = 12.000 : 5 = 2.400) aus Naturschutzgebieten entnommen. Das sind jährlich 0,63 Prozent der geschützten Wälder Estlands, die eine Fläche von 380.000 Hektar bedecken. Insgesamt ist mehr als die Hälfte des 45.000 km2 großen Landes waldbedeckt; exakt 2.430.000 Hektar!
The New Yorker bringt am 22. Januar 2021 einen Gast-Beitrag zu den Annalen der Erderwärmung mit der Headline "To Counter Climate Change, We Need to Stop Burning Things". Einleitend ein historischer Diskurs über die Menschen, die immer schon Holz verbrannt haben, u.a. um Fleisch zu braten, "so dass unser Gehirn größer werden konnte. Jetzt haben diese großen Gehirne verstanden, dass brennendes Zeug das stabile Klima zerstört, von dem die Zivilisation abhängt." Auch Wissenschafter haben große Gehirne und bestätigen laut neuester Forschungen: "Zum einen verbrennt Holz ineffizient und produziert große Mengen Kohlenstoff für jede Energieeinheit, die es produziert. Schlimmer noch, es dauert Jahrzehnte, bis diese Wälder nachwachsen und diesen Kohlenstoff aufnehmen – Jahrzehnte, die wir nicht haben."
Bislang sei Biomasse zur Energiegewinnung in den USA noch kein großer Faktor, und wo Kraftwerke geplant werden, sind Aktivisten vor Ort. So bei einem Projekt in Springfield, Massachusetts, wo "Gegner versuchen sicherzustellen, dass Biomasse nicht als erneuerbare Energie nach staatlichen Richtlinien gezählt wird. In Europa, wo die offizielle EU-Politik Biomasse immer noch als 'kohlenstoffneutral' behandelt, ist die Dystopie schon viel weiter fortgeschritten. Große Kohlekraftwerke wurden umgebaut, um Holz zu verbrennen", so The New Yorker, der weitgehend die Darstellung von The Guardian übernimmt.
Der Autor diese Artikels, Bill McKibben, ist einer der Gründer der Klimakampagne 350.org. Man muss ihm zugute halten, dass sich seine Kritik nicht einseitig gegen die Verwendung von Biomasse zur Energiegewinnung richtet, sondern auch gegen den massiven Einsatz fossiler Rohstoffe. In der Sprache des Aktivisten: "Die Kunststoffproduktion ist der Plan B der fossilen Brennstoffindustrie. Angesichts sinkender Nachfrage nach fossilen Brennstoffen – aufgrund des zunehmenden Einsatzes erneuerbarer Energien, Elektroautos und dergleichen – setzt die Industrie auf Kunststoffe, um ihre Gewinne zu steigern und einen Markt für alle Ethane zu schaffen, die als Nebenprodukt des Hydrofrackings entstehen. Und es ist wichtig zu beachten, dass die fossile Brennstoffindustrie, die chemische Industrie und die Kunststoffindustrie ein und dasselbe sind: ein dreiköpfiges Monster."
Wie ein Milliardär die Klima-Krise lösen will
Die Chronologie der aktuellen Medienberichte durchbrechend hier ein kurzer Exkurs zu einem Buch, das im Februar 2021 erschienen ist. Es trägt den Titel "Wie wir die Klimakatastrophe verhindern. Welche Lösungen es gibt und welche Fortschritte nötig sind" und stammt von einem der zehn reichsten Männer dieser Welt: Bill Gates. Eine umfangreiche Rezension findet sich auf ethos.at, hier nur drei Zitate: "Wenn wir Zement oder Stahl herstellen, wird CO2 als unvermeidliches Abfallprodukt freigesetzt, aber wenn wir einen Kunststoff herstellen, bleibt etwa die Hälfte des Kohlenstoffs im Plastik gebunden." Plastikmüll, der die Weltmeere verschmutzt, "ist ein Problem, das zu lösen sich lohnt: Im Meer herumtreibende Plastikteile verursachen alle möglichen Probleme; nicht zuletzt können sie Meerestiere und -pflanzen vergiften. Aber die Klimaveränderung verschlimmern sie nicht. Soweit es nur um Emissionen geht, ist der in Plastik enthaltene Kohlenstoff nicht so schlimm."
Neben Problemen, die es "lohnt" gelöst zu werden, steckt im Plastik vor allem das Potenzial zur Kohlenstoff-Senke: "Sauberer Strom könnte uns helfen, ein weiteres Problem zu lösen: die Produktion von Kunststoffen. Wenn genügend Teile des Puzzles zusammenkommen, könnten Kunststoffe eines Tages als Kohlenstoffsenke dienen - als Methode, um Kohlenstoff langfristig zu binden, anstatt ihn zu emittieren." Wie auch immer Bill Gates seine Zukunftsvisionen entwickelt, das Puzzlestück "Fracking" kommt in seinen Betrachtungen, konkret in seinem 300 Seiten umfassenden Buch, nicht vor. Von Geo-Engineering dagegen hält er große Stücke, auch wenn die "Gangbarkeit dieser Visionen noch unbewiesen" ist. Weitere Lösungsansätze sieht er in "Atomkraftwerken der nächsten Generation" und DAC (Direct Air Capture: "Dabei wird Luft über ein Gerät geblasen, das CO2 absorbiert, und dann wird das CO2 permanent eingelagert."
Natural Gas versus Biomasse
Am 1. Februar 2021 schaltet sich Natural Gas World in den Bioenergie-Diskurs ein und produziert die Schlagzeile: "Rapid Growth of Coal-to-Wood Switching Destroys Forest With No Climate Benefits". Der Inhalt kurz gefasst: "Anstatt von Kohle auf saubereres Erdgas umzusteigen, setzen die Kohleproduzenten in Europa und Asien massiv auf Biomasse, mit desaströsen Auswirkungen auf die Wälder und geringen oder gar keinen Klimavorteilen. Diese Praktiken werden durch die Rechtsvorschriften der Vereinten Nationen und der EU gefördert. Holzpellets sind eines der 'schmutzigen Geheimnisse' hinter dem Erfolg der EU im Bereich der erneuerbaren Energien, insbesondere von Biomasse. Im Gegensatz zu dem, was die meisten Menschen denken, stammt der größte Teil der in der EU erzeugten erneuerbaren Energien nicht aus Solar- oder Wind, sondern aus der Verbrennung von Biomasse."
Bis auf die Wortschöpfung "sauberes Erdgas" decken sich die Aussagen dieses Artikels mit den Argumenten des WWF. So berichtet die weltgrößte Umweltorganisation (5.000 Mitarbeiter und fünf Millionen Unterstützer in 100 Ländern) am 26. Januar über die Petition #stopfakerenewables, die 40.000 Europäer unterzeichnet haben: "Ein Großteil der Waldbiomasse schadet dem Klima, der biologischen Vielfalt oder beiden. Ein Bericht der Europäischen Kommission kommt zu dem Schluss, dass ein Großteil der Waldbiomasse mehr Treibhausgasemissionen verursacht als Kohle, Öl und Gas."
Der Output von Natural Gas World entspringt dem Input der Erdgasindustrie. Das beweist ein Blick auf die Partner des Mediums, den Beirat sowie die Mitarbeiter. Der Chefredakteur aus Moskau arbeitet mit Branchen-Kennern (darunter auch Branchen-Vertreter) aus Indiana, London, Edinburgh, Vilnius, Prag, Baku, Mumbaj und Abja. Im Beirat finden sind u.a. Rune Bjørnson (ehemals Manager bei Statoil), Tatiana Mitrova (hochrangiges Mitglied zahlreicher staatlicher russischer Institutionen, daneben Aufsichtsrad von E.ON Russia) und Jupiter Ramirez (langjähriger Manager in der internationalen Erdgas-Industrie).
Jede Organisation hat das Recht auf Unterstützung durch Opinionleader aus den entsprechenden Branchen. Das gilt auch für Informationsportale. Jenseits berechtigter Interessen der Vertreter des "sauberen Gases" liegt jedoch die Polemik über "schmutzige Geheimnisse" der Bioenergie-Branche. In den vergangenen Jahren wurden in so gut wie allen Bereichen der Bio-Energie "dirty secrets" aufgedeckt: Schon 2015 schrieb greenbiz.com: "Pulp fiction: Why wood is a dirty secret of clean energy" und bereits 2010 hat dieser Anbieter alternativer Informationen über
"Solar Power's Dirty Secrets" geschrieben. Schmutzige Geheimnisse verbirgt angeblich auch die Windenergie: über "The Big Dirty Secret Behind Wind Power" schreibt die internationale Nachrichten-Agentur Bloomberg am 7.2.2020. Das nicht weniger renommierte Business-Magazin Forbes enthüllt am 3.8.2020 "The Dirty Secrets Of ‘Clean’ Electric Vehicles".
Der Hinweis auf "dirty secrets" fehlt im jüngsten offenen Brief, den Umweltorganisationen aus Estland, Kanada, Portugal und den USA am 30. April 2021 an Anne-Marie Belinda Trevelyan geschickt haben. Die Adressatin ist seit Jahresbeginn Britische Staatsministerin des Department for Business, Energy & Industrial Strategy (kurz: BEIS). Erstmals werden in einem offenen Brief nicht nur allgemeine Aussagen über Kohlenstoff-Schuld oder Biodiversität getroffen, sondern auch konkrete Namen genannt: Bezugnehmend auf Untersuchungen der Dogwood Alliance wird behauptet, "dass Holz, das in Enviva-Pelletmühlen verwendet wird, üblicher Weise aus Kahlschlägen [Englisch: clearcuts] alter Laubwälder in einer Region stammt, die als globaler Biodiversitäts-Hotspot ausgewiesen ist."
Enviva mit Sitz in Raleigh, North Carolina, ist einer der Pellets-Lieferanten für den britischen Stromkonzern Drax, der in der Nähe von Selby, North Yorkshire, bislang vier von sechs Blöcken, die ursprünglich mit Kohle betrieben wurden, auf Pellets umgerüstet hat. "65 Prozent der von Drax im Jahr 2020 verbrannten Holzpellets stammten aus dem Südosten der USA, aus drei Pelletmühlen von Drax selbst sowie aus denen von Enviva LLC. Pellets aus der Region werden auch im Kraftwerk Lynemouth in Northumberland verbrannt".
Passend dazu publizierte Politico, das nach eigenen Angaben "die Mächtigen, insbesondere diejenigen, die politisch, beruflich oder finanziell an Politik und Politik beteiligt sind" informiert, am 26.3.2021 einen umfangreichen Artikel: "The ‘Green Energy’ That Might Be Ruining the Planet". Mit Focus auf die USA heißt es: "Die Biomasse-Industrie erwärmt die Wirtschaft des Südens, aber viele Experten befürchten, dass sie dasselbe mit dem Klima tut. Wird die Biden-Administration sie in die Arme schließen oder beschneiden?" Es hat ein paar Wochen gedauert, bis diese Message des Politjournals zur New York Times durchgesickert ist, die am 19.4.2021 schreibt: "There’s a Booming Business in America’s Forests. Some Aren’t Happy About It."
Zurück zum offenen Brief an Ministerin Trevelyan, der weiters Kritik an den Aktivitäten und Fehlentwicklungen in Portugal, Lettland und Estland übt. So habe Drax 2020 rund 840.000 Tonnen Holzpellets aus den beiden baltischen Republiken verheizt, was zu einem massiven Anstieg der Einschläge geführt habe, wobei Kahlschlag die gängige Methode sei. Auch boreale Urwälder Kanadas seien gefährdet, ebenso wie deren Bewohner. Mehr als 600 indigene Gemeinden, "die in der Nähe der Pelletanlagen leben, äußern häufig Beschwerden, dass Lärm und Luftverschmutzung sowie Gefahren für den Boreal-Wald bestehen. Die weitverbreitete Abholzung von borealen Wäldern für Biomasse bedroht die Kulturen und Lebensgrundlagen vieler indigener Völker."
Diese Kritik richtet sich immer auch gegen den Energiekonzern Drax, der überall seine Eisen im Feuer hat. Ein besonderer Stein des Anstoßes sind die hohen Subventionen, die Großbritannien den Stromkonzernen für die Umrüstung auf Biomasse bezahlt: "Allein Drax erhielt im Jahr 2020 Subventionen in Höhe von 831 Millionen Pfund für erneuerbaren Strom, um 7,14 Millionen Tonnen Holzpellets zu verbrennen."
Während die Argumente in diesem Brief sachlich vorgetragen werden, protestieren Demonstranten lautstark vor dem Biomasse-Kraftwerk gegen den "Drax Biokraftstoff Betrug" und Biofuelwatch fordert in seiner jüngsten Kampagne sogar: #AxeDrax! Parallel dazu laufen auf Twitter Kampagnen unter #StopFakeGreen, #Stand4Forests, #CutCarbonNotForests, #StopBiomassa. Über 150 Organisationen haben sich zusammengeschlossen um auf einer gemeinsamen Plattform über alle einschlägigen Kampagnen weltweit zu informieren. Die eindeutig zweideutige Domain dieser Gruppe: www.biomassmurder.org
Stichworte: Wald + Forstwirtschaft + Umweltschutz + Klimaschutz + Framing + Propaganda + Nachhaltigkeit