Österreichischer Presserat, ZVR-Zahl: 085650650
SELBSTÄNDIGES VERFAHREN AUFGRUND EINER MITTEILUNG EINES LESERS 2024/044
Zugestellt an ethos.at am 12. Juli 2024
Der Presserat ist ein Verein, der sich für verantwortungsvollen Journalismus einsetzt und dem diewichtigsten Journalisten- und Verlegerverbände Österreichs angehören. Die Mitglieder der Senate des Presserats sind weisungsfrei und unabhängig. Im vorliegenden Fall führte der Senat 2 des Presserats aufgrund einer Mitteilung eines Lesers ein Verfahren durch (selbständiges Verfahren aufgrund einer Mitteilung). In diesem Verfahren äußert der Senat seine Meinung, ob eine Veröffentlichung den Grundsätzen der Medienethik entspricht. Die Medieninhaberin der Wochenzeitschrift „NEWS“ hat von der Möglichkeit, an dem Verfahren teilzunehmen, Gebrauch gemacht. Die Medieninhaberin der Wochenzeitschrift „NEWS“ hat die Schiedsgerichtsbarkeit des Presserats anerkannt.
ENTSCHEIDUNG
Der Senat 2 hat durch seinen stv. Vorsitzenden Mag. Benedikt Kommenda und seine Mitglieder Mag.a Alexandra Halouska, Arno Miller, Hans Rauscher und Mag.a Ina Weber in seiner Sitzung am 23.04.2024 nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung im selbständigen Verfahren gegen die „VGN Medien Holding Gesellschaft m.b.H.“, Taborstraße 1-3, 1020 Wien, als Medieninhaberin der Wochenzeitschrift „NEWS“, wie folgt entschieden:
Die Rubrik „FAKTEN. Politik, Chronik und Wirtschaft“, erschienen auf Seite 16 der Wochenzeitschrift „NEWS“, Ausgabe 4/2024, verstößt gegen die Punkte 3 (Unterscheidbarkeit) und 7 (Schutz vor Pauschalverunglimpfung und Diskriminierung) des Ehrenkodex für die österreichische Presse.
BEGRÜNDUNG
Im Beitrag wurde ein großflächiges Foto veröffentlicht, das ein Lichtermeer bzw. eine Kundgebung vor dem Berliner Reichstag zeigt. Unterhalb des Fotos fand sich folgender Begleittext: „BERLIN, DEUTSCHLAND: Gut, dass es sich endlich gegen Nazi-Unrat rührt, schlimm allerdings der Anlass. Was schon während der Corona-Zeit sein Haupt erhoben hat, wird jetzt virulent. Die Krise führt zur Radikalisierung nach rechts, und mittlerweile ist das Pack dank aufmerksamer Beobachter
aufgeflogen. Es geht um nichts Geringeres als die Außerkraftsetzung der Grundrechte. Dagegen wird wie hier vor dem Berliner Reichstag in ganz Deutschland demonstriert. Vielleicht nüchtert das auch hierzulande Machtbesoffene aus.“
Ein Leser wandte sich an den Presserat und kritisierte die oben zitierten Formulierungen im Begleittext als pauschale Diffamierung, u.a. gegenüber den Demonstrantinnen und Demonstranten gegen die Corona-Schutzmaßnahmen.
Die Medieninhaberin nahm am Verfahren teil. In einer schriftlichen Stellungnahme führte der Autor des Beitrags aus, dass in Deutschland ein weltweit verabscheutes Neonazi-Treffen aufgeflogen sei, dessen Teilnehmer er in der Tat pauschal diffamiert habe. Der Autor habe sich darin auch von seinen jüdischen Verwandten, die er aus geläufigen Umständen nicht mehr kennenlernen durfte, bestärkt gesehen. Auf die Corona-Demonstrationen habe er nur insofern Bezug genommen, als sich bei einem Teil der Teilnehmerschaft Tendenzen durchgesetzt hätten, die jetzt böse Konsequenzen nach sich ziehen würden; in diesem Zusammenhang verwies der Autor auf die Teilnehmer mit applizierten Judensternen. Allerdings halte er keineswegs sämtliche Teilnehmer der Corona-Demonstrationen für Rechtsradikale; falls dieser Eindruck im Bildtext entstanden wäre, würde er das ausdrücklich bedauern.
Zudem hielt die Chefredakteurin des Mediums fest, dass sich die Bildunterschrift auf AfD-Politiker und Rechtsextreme beziehe, denen zufolge „Asylanten“, „Nichtstaatsbürger“ und „nicht assimilierbare Staatsbürger“ Europa verlassen sollten; sogar der deutsche Bundeskanzler habe die „Remigrations-Pläne“ jener rechtsradikalen Akteure mit der NS-Rassenideologie verglichen. Nach Meinung der Chefredakteurin dürfe man Leute mit einer solchen Weltanschauung als „verkommen“ bezeichnen, auch wenn das Wort nicht sehr elegant sei; über die Begriffe „Pack“ und „Nazi-Unrat“ lasse sich trefflich streiten. Am Ende der Stellungnahme wurde noch auf die Aufgabe der Medien hingewiesen, Vorgänge ausdrücklich zu benennen – im konkreten Fall gehe es um Demokratiegefährdung.
Der Senat berücksichtigt, dass der vorliegende Beitrag ein Thema von großem öffentlichem Interesse betrifft (vgl. Punkt 10 des Ehrenkodex für die österreichische Presse): Das Foto dokumentiert eine Demonstration der Massenproteste gegen Rechtsextremismus in Deutschland vom Winter 2024. Auslöser war ein Treffen von Rechtsextremisten in einer Potsdamer Villa, bei dem auch mehrere Politikerinnen und Politiker anwesend waren und u.a. sogar die Ausweisung von deutschen Staatsbürgerinnen und Staatsbürgern thematisiert wurde. Die Senate des Presserats haben bereits mehrmals festgestellt, dass die Presse- und Meinungsfreiheit bei demokratiepolitisch bedeutsamen Ereignissen von vornherein besonders weit auszulegen ist (vgl. etwa die Mitteilungen 2018/208 und 2021/308).
Allerdings können Äußerungen, die unmittelbar in die Menschenwürde von Personen(-gruppen) eingreifen, nicht mit der Presse- und Meinungsfreiheit gerechtfertigt werden. Dieser strenge Ansatz ist damit zu rechtfertigen, dass die Menschenwürde den Kern der Persönlichkeitssphäre betrifft und ihre Wahrung somit als eines der wichtigsten medienethischen Prinzipien gilt (siehe bereits die Entscheidungen 2012/S007-II, 2019/043 und 2022/418). Folglich sind sogar Schwerverbrecherinnen und Schwerverbrecher oder – wie im vorliegenden Fall – extremistische Gruppierungen vor Eingriffen in die Menschenwürde geschützt (vgl. die Entscheidung 2012/S002-II und den Brief 2019/157).
Nach Meinung des Senats ist der im Begleittext verwendete Begriff „Nazi-Unrat“ pauschal herabsetzend: „Unrat“ meint etwas, was aus Abfällen bzw. Weggeworfenem besteht (siehe dazu speziell die Entscheidung 2023/055). Der Senat bewertet den Begriff ähnlich wie die Bezeichnungen als „Müll“ oder „Abschaum“, die ebenfalls bereits als Eingriff in die Menschenwürde eingestuft wurden (Entscheidung 2022/418). Zudem hätte die (nachvollziehbare) Kritik des Autors an der extremen politischen Forderung einer „Remigration“ von ausländischen Mitbürgerinnen und Mitbürgern auch ohne den menschenverachtenden Begriff geäußert werden können. Im Sinne der bisherigen Spruchpraxis greift die Bezeichnung „Nazi-Unrat“ in die Menschenwürde ein, die nicht nur den Kern des Persönlichkeitsschutzes von Einzelpersonen betrifft (siehe Punkt 5.1 des Ehrenkodex), sondern auch den Kern des Schutzes vor Pauschalverunglimpfungen von Personengruppen (siehe Punkt 7.1 des Ehrenkodex).
Hinzu kommt, dass der vorliegende Beitrag den Eindruck eines (neutralen) Berichts erweckt, zumal das Foto unterhalb der Überschrift „FAKTEN“ veröffentlicht wurde. Nach Auffassung des Senats überwiegen im Begleittext jedoch jene Passagen, in denen eine klar subjektive Wertung zum Ausdruck kommt – etwa, dass die Proteste vielleicht „hierzulande Machtbesoffene“ ausnüchtern würden oder die Bezeichnung der Verfechter der „Remigration“ als „Nazi-Unrat“ und „Pack“, das dank aufmerksamer Beobachter aufgeflogen sei (vgl. dazu die Entscheidungen 2015/120 und 2021/259). Im Ergebnis enthält der Begleittext überwiegend Meinungselemente, in denen der Standpunkt des Autors deutlich wird. Nachdem keine entsprechende Kennzeichnung als Kommentar vorgenommen wurde, verstößt der Beitrag somit auch gegen das Gebot der Unterscheidbarkeit von Bericht und Kommentar (Punkt 3.1; siehe hierzu auch die Fälle 2015/180, 2016/200 und 2018/146).
Der Senat stellt daher gemäß § 20 Abs. 2 lit. a der Verfahrensordnung der Beschwerdesenate einen Verstoß gegen den Ehrenkodex für die österreichische Presse fest. Gemäß § 20 Abs. 4 der VerfO wird die „VGN Medien Holding Gesellschaft m.b.H.“ aufgefordert, die Entscheidung freiwillig im betroffenen Medium zu veröffentlichen oder bekanntzugeben.
Österreichischer Presserat Beschwerdesenat 2
Stv. Vorsitzende Mag. Benedikt Kommenda, 23.04.2024