Bierling Stephan: Die Unvereinigten Staaten - Das Buch im Detail

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Kurzkommentar ethos.a (18.9.2024)t: Der Autor macht schon einleitend deutlich, dass er wenig Sympathie für Donald Trump aufbringt. Aber der Historiker überblickt auch die größeren Zusammenhänge: „er [Trump] traf auf eine Wählerschaft, die das zu einem erstaunlich hohen Anteil attraktiv fand, und auf eine politische Kultur, die sich über Jahrzehnte an Konfrontation, Diffamierung und Skandalisierung gewähnt hatte.“ 

(Fortsetzung 13.10.2024) Über die Zukunft der Demokratie in Amerika und die Frage:

Sind die USA noch eine Demokratie?

Das politische System der Vereinigten Staaten hat sich seit den 1980er Jahren von den Ideen der Gründerväter entfernt. Wie das passieren konnte, beschreibt der Historiker und Politologe Stephan Bierling stringent. Er bietet tiefe Einblicke in die tragenden Säulen des Landes: Präsident, Kongress, Gerichte (insbesondere Supreme Court), sowie der Einzelstaaten (Föderalismus).

Wer im Vorfeld der kommenden US-Präsidentschaftswahl die politischen Player und ihre Spielregeln besser verstehen will, muss dieses Buch lesen, auch wenn die Untersuchung des Einflusses von NGOs, Think Tanks, Lobbyisten und der Medien etwas oberflächlich geraten ist und das Spiel der Finanzmagnaten (siehe Freisleben, „Das Amerika Syndikat) völlig ausgeblendet wird.

Der Untertitel des Buchs, „Das politische System der USA“, enthält einen zweiten Teil: „und die Zukunft der Demokratie“. Hier findet sich keine Antwort auf die Frage: sind die USA noch eine Demokratie? Die Antwort fehlt schon allein deshalb, weil der Autor diese Frage nicht stellt, sondern voraussetzt, dass die Antwort außer Zweifel steht. Im Gegensatz zum Amerika-Experten Bierling, darf ich als Philosoph diese radikale Frage stellen und konfrontiere den Autor mit der These: Amerika ist keine Demokratie mehr, sondern ein Plutokratie (Herrschaft des Geldes).

Zu diesem Aspekt bietet das Buch wertvolle historische Fakten, die von einer einfachen Prämisse getragen sind: „Wahlen sind die Quintessenz einer Demokratie.“ (101)

„Die ganze Lebenskraft der amerikanischen Demokratie zeigt sich in nichts besser, als dass ihre Wähler seit 1788 alle zwei Jahre das Repräsentantenhaus und (seit 1914) ein Drittel des Senats und alle vier Jahre den Präsidenten bestimmen – trotz Bürger- und Weltkriegen, trotz Wirtschaftskrisen und Terroranschlägen.“ (101)

„Die Frage, wer an Wahlen teilnehmen darf, ist fundamental für jede Demokratie. Die Verfassung machte ursprünglich keine Vorgaben und überließ es den Einzelstaaten, die Wahlberechtigten festzulegen. «We the People», wie es in der Präambel einschränkungslos und genderneutral heißt, bedeutete 1788 bei den ersten Präsidentschafts- und Kongresswahlen in den meisten Staaten de facto weiße Männer über 21 Jahre mit Grundbesitz – damals 6% der Bevölkerung.“ (103)

Man muss daran erinnern, dass in Europa zu Zeiten des Heiligen Römischen Reiches Kurfürsten den Kaiser gewählt haben. Auch noch im 18. Jahrhundert. Wahlen allein können demnach keine zureichende Bestimmung und auch nicht die "Quintessenz" einer Demokratie sein. In Amerika kam dazu das republikanische Prinzip, in dem Bürger Bürger wählen, sowie eine Verfassung als Grundlage des Staates im Gegensatz zum "freien" Willen absoluter Herrscher. Dass bei den ersten amerikanischen Wahlen nur weiße, wohlhabende Männer aktives und passives Wahlrecht hatten, ist für die erste Demokratie der Neuzeit kein Mangel, sondern ein essenzieller Unterschied und Fortschritt zu den europäischen Monarchien: immerhin wählten 6% der Bürger einen Präsidenten aus dem Volk und nicht sieben Kurfürsten einen Kaiser. Bleibt als Treppenwitz der Demokratie-Geschichte, dass diese Regierungsform – so wie die Demokratien der Antike – auch in den USA die Sklaverei als Starthilfe benötigte. „Von 13 Gründerstaaten der USA erlaubten 1789 acht die Sklaverei, fünf verboten sie.“ (26)

Das Wahlrecht wurde laufend erweitert (Frauen erhielten in Wyoming bereits 1869 das Wahlrecht, auf nationaler Ebene wurde es 1920 durchgesetzt), doch: „Keine andere Demokratie hat so drakonische Gesetze zum Ausschluss von Wählern wie die amerikanische.“ (105) Dazu kommt das Prinzip „The Winner takes it all“, das dazu führt, dass ein Kandidat, der die Mehrheit der Wähler hat, nicht automatisch die Mehrheit der Wahlmänner gewinnt. So erhielt Hillary Clinton 2016 mit 65,8 Millionen Wählern nur 227 Wahlleute, während Trump mit 62,9 Millionen Stimmen 304 Wahlleute abräumen konnte. Am Rande bemerkt: rund 129 von 333 Millionen US-Bürgern (weniger als 40 Prozent) hatten damals eine gültige Stimme, obwohl insgesamt 168 Millionen Wähler registriert waren und rund 200 Millionen grundsätzlich wahlberechtigt wären. Dass sich Staatsbürger in den USA erst registrieren müssen, um immer wieder ihr Wahlrecht zu erwerben, ist eine weitere amerikanische Besonderheit, die man unmöglich zum "Demorkatie-Standard" erklären kann.

Das Klischee, dass die ländlichen Gebiete republikanisch wählen und die großen Städte demokratisch, stimmt mit der Entwicklung der vergangenen Jahrzehnte überein. Dieser Trend verschärft sich durch ständige Veränderung der Wahlkreise zugunsten der Mehrheitsfraktionen in den Bundesstaaten. Möglich wird das durch „Gerrymandering“, das zurück geht auf den Gouverneur Elbridge Gerry von Massachusetts, der bereits 1812 „ein Gesetz unterzeichnete, das die Wahlkreise für den Staatssenat aufgrund parteilicher Kalküle zuschnitt.“ (186) Gerrys Wahlkreis überzeichnete ein Karikaturist seiner Zeit als Salamander – daraus entstand das Kofferwort „Gerrymander“. Die Praxis ist aber alles andere als lustig, sondern mit Prinzipien allgemeiner, freier Wahlen unvereinbar.

Bierlig USA Gerrymander

Da die einzelnen Staaten in den vergangenen Jahrzehnten immer stärker eingefärbt wurden (rot steht für die Republikaner, blau für die Demokraten), werden bei den Präsidentschaftswahlen immer weniger „Swingstaaten“ zum Zünglein an der Waage. Für neue Parteien ist auch im Kongress wenig Platz: „Die Wahlergebnisse von Drittparteien liegen meist bei weniger als 1%.“ (125) Dazu kommt: „Wahlkämpfe sind enorm teuer in den USA, und ihre Kosten wachsen exponentiell.“ (130) Interessantes Detail: die Präsidentschaftskandidaten können auch öffentliche Wahlkampfmittel erhalten. „Bis 2008 akzeptierten alle Kandidaten der Republikaner und Demokraten diese Form der Unterstützung für den Hauptwahlkampf. Sie lag damals bei 84 Millionen Dollar pro Bewerber. Dann sammelte Barack Obama jedoch so große Summen an Spenden ein, dass er als erster Kandidat auf Staatsgeld verzichtete, weil er sich keinen Auflagen unterwerfen wollte. […] Seither nahm kein Präsidentschaftsbewerber einer großen Partei mehr staatliche Unterstützung an.“ (131)

Nach klassischer Definition von Demokratie liegt ihr Wesen in der Gewaltenteilung zwischen Exekutive, Legislative und Judikative, die unabhängig von einander agieren und sich gegenseitig kontrollieren. Nach Karl Popper ("Die offene Gesellschaft und ihre Feinde") kann man das Prinzip der Offenheit als wesentliches Demokratie-Element ergänzen.

„Kaum etwas fürchteten die Gründerväter mehr als einen übermächtigen Chef der Exekutive. […] Mit FDR [Franklin D. Roosevelt] beginnt die «moderne Präsidentschaft», in der das Weiße Haus seine Zuständigkeiten in der Innen-, aber vor allem in der Außenpolitik massiv ausweitete, die Initiative im Gesetzgebungsprozess übernahm und einen eigenen Apparat unabhängig von den Ministerien aufbaute.“ (139) Das gipfelt in der Position Barack Obamas „Wann und wo immer ich also Schritte ohne Gesetzgebung unternehmen kann, um die Chancen für mehr amerikanische Familien zu verbessern, werde ich das auch tun.» Sein Nachfolger Donald Trump behauptete sogar, Artikel II gebe ihm «das Recht, als Präsident zu tun, was ich will.» (139)

Alle Präsidenten betonten ihr executive privilege, also das Recht, bestimmte Informationen vor den anderen Regierungsgewalten und der Öffentlichkeit zurückzuhalten. […] Obwohl die legislative Kompetenz beim Kongress liegt, ist der Präsident durch die Gewaltenverschränkung vielfältig in sie eingebunden.“ (149) Man könnte die „Gewaltenverschränkung“ auch als politischen Filz bezeichnen. Intransparenz und Filz sind aber keine „Privilegien“ des Präsidenten, der Kongress verwirklicht diese politische Praxis auf seine Weise.

„Das Neuzuschneiden der Wahlkreise (redistricting) für das Repärsentantenhaus erfolgt alle zehn Jahre nach dem Zensus. Dabei müssen meist beide Kammern des Staatskongresses sowie der Gouverneur zustimmen. In Zeiten parteipolitischer Polarisierung funktioniert dies nur, wenn Demokraten oder Republikaner alle drei Institutionen kontrollieren. Dann kann eine Partei das entsprechende Gesetz über den Wahlkreiszuschnitt im Parlament verabschieden und hat kein Veto des Gouverneurs zu fürchten. Man nennt diese Konstellation in Anlehnung an eine Dreierwette bei Pferderennen ein Trifecta; […] Nachdem die Zahl von Trifectas von den frühen 1980er Jahren bis 2008 um die 20 geschwankt hatte, verdoppelte sie sich seither. […] Durch den Boom von Trifectas wuchsen die Möglichkeiten für Gerrymandering.“

„Bis in die 1990er Jahre waren Fraktions- oder Parteidisziplin bei Abstimmungen im Kongress so gut wie unbekannt. Zwar versuchten Präsidenten, Sprecher und Mehrheitsführer ihre Fraktionen zu geschlossenem Vorgehen zu bewegen, aber meist erfolglos. Dies änderte sich mit der ideologischen Selbstsortierung der Parteien, ihrer Abgeordneten und ihrer Wähler.“ (210)

Die Gesetzgebung selbst beginnt bei der „bill“ (Gesetzesvorlage, die jeder Abgeordnete in seiner Kammer einreichen kann. „Pro zweijähriger Legislaturperiode wird auf diesem Weg eine fünfstellige Zahl von bills und Resolutionen in beide Kammern eingebracht. Im 117. Kongress von 2021 bis 2023 waren es 17.812. Die meisten davon sind symbolische Resolutionen, die der Wählerbindung dienen und keine Rechtskraft erlangen. So initiierten die Senatoren Kaliforniens im Februar 2022 eine Resolution, mit der sie dem Football-Team Los Angeles Rams zum Super-Bowl-Sieg gratulierten. Die Kammer stimmte zu.“ (203 f)

Gesetzgebung als Show für die Fans zuhause! Damit sind Kosten verbunden, insbesondere Personalkosten. So ist es kein Wunder, dass selbst im angeblich liberalen, staatsfeindlichen Amerika der Beamtenstaat floriert. 10.000 Mitarbeiter im Repräsentantenhaus und 6.000 im Senat sind nur ein kleiner Teil von 2,9 Millionen Bundesbeamten. „Weitere 20 Millionen Beamte in Einzelstaaten und Kommunen unterrichten Schüler und Studenten, kümmern sich um die öffentliche Sicherheit und Gesundheitsversorgung, halten Straßen in Schuss und öffentlichen Nahverkehr am Laufen, inspizieren Restaurants auf Sauberkeit oder geben Führerscheine aus. 2019 arbeiteten 15% aller Beschäftigten in den USA im öffentlichen Sektor – im Durchschnitt der hochentwickelten OECD-Staaten waren es 19%, in Deutschland 11.“ (166)

Teil des Filzes („Gewaltenverschränkung“) ist auch die Judikatur, die damit beginnt, dass Richter politische besetzt werden und entsprechend entscheiden: „.Nur so ist zu erklären, dass der Supreme Court 2022 das Recht auf Abtreibung annullierte und die Waffengesetze liberalisierte, obwohl die überwiegende Mehrheit der Amerikaner sich dagegen aussprach.“ (224)

„Der Supreme Court ist in den vergangenen Jahren nicht nur konservativer geworden, sondern hat auch seine Macht gegenüber Behörden, Kongress, Einzelstaaten und den Bürgern ausgebaut.“ (234)

Im Schlusskapitel „Todeskampf oder Neubelebung: Die Zukunft der Demokratie in Amerika“ bringt Bierling seine Betrachtungen auf den Punkt: „Die parteipolitische Polarisierung ist das zentrale Problem für die Funktionstüchtigkeit des amerikanischen Staatswesens, mehr noch, sie ist eine Bedrohung der Demokratie an sich. Stehen sich Parteien konfrontativ gegenüber, wäre das auch für ein parlamentarisches Regierungssystem eine große Herausforderung, aber für ein präsidentielles ist das eine existenzielle. [...]

Da diese Spaltung nicht mit Trump begann, sondern ihre Wurzeln ein halbes Jahrhundert zurückreichen, dürfte sie auch nicht mit seinem Aus#scheiden aus der Politik enden – obwohl es zweifellos hilfreich wäre. Denn die Kluft zwischen Demokraten und Republikanern wird vertieft von «Polarisierungsunternehmern» (Steffen Mau) in Parteien, Gesellschaft, Interessengruppen, Think Tanks, Universitäten, Talkradio, Fernsehsendern und Sozialen Medien mit ihren auf Empörung und Echokammern gepolten Algorithmen. Motivation und Lohn für diese Kulturkrieger sind hyperloyale Wähler, Spenden für Wahlkämpfe und Lobbys sowie Werbeeinnahmen durch hohe Einschaltquoten und Klickzahlen, und, wie stets in der Politik, Macht. Nach mehr als drei Dekaden hetzerischen Dauerfeuers hat sich die Polarisierung in Gesellschaft sowie Institutionen und Prozesse des Regierungssystems eingebrannt.“ (260 f)

Resümee: „Weder eine Änderung der Verfassung noch eine von Gesetzen und Regeln ist ein vielversprechender Weg, die Demokratiedefizite und insbesondere die Spaltung der Nation zu überwinden.“ (269) Das klingt nach einem Todesurteil der Demokratie in Amerika, überzeugende Beispiele einer „Neubelebung“ kann Bierling nicht bringen.

Der Salamander als Symbol für Gerrymandering erinnert an den „Drachen“, den der russische Regimekritiker Michail Codorkowski töten will. Zumindest ruft er dazu auf. Die Revolution, die er in seinem Buch Wie man einen Drachen tötet fordert, ist keine Revolte zur Vernichtung einiger weniger Anführer des Systems, sondern eine radikale Veränderung des Systems selbst: "Bei genauem Hinsehen handelt es sich bei dem Drachen gar nicht um eine bösartige Persönlichkeit, sondern um eine Allegorie des Staates. Eines Staates, bei dem drei Köpfe – Legislative, Exekutive und Judikative – fest am fetten, korrupten Rumpf des allmächtigen bürokratischen Apparats sitzen, der dank der Einigkeit seiner Köpfe die zersplitterte Gesellschaft drangsalieren kann." Ein Urteil, das auch auf das Regierungssystem der USA zutrifft. 

Aus philosophischer Sicht ist das amerikanische Regierungssystem keine Demokratie mehr, doch der Politologe Bierling sieht lediglich „Demokratiedefizite“, obwohl allgegenwärtige Gewaltenverschränkung die von den Verfassungsgebern beabsichtigte Gewaltenteilung überwuchert. Wie auch immer das Urteil über die amerikanische Demokratie ausfällt, der Autor der „Unvereinigten Staaten“ liefert jedenfalls hunderte Quellen zur Vertiefung und Beurteilung dieser Frage. SAPERE AUDE!