EU-Wahl 2024 von 6. bis 9. Juni - Sonneborn

Beitragsseiten

Märchenstunde auf ORF.a (14.5.24): „Europa vor Richtungsentscheidung. Mehr Zusammenarbeit in Europa und damit mehr Mitsprache in der Welt oder weniger von beidem – das ist nach Meinung vieler Politiker und Politikerinnen die Frage bei der Neuwahl des EU-Parlaments Anfang Juni. … Das Parlament hat entscheidenden Einfluss auf die Gesetzgebung und Verwaltung in den Nationalstaaten. Als Gesetzgeber auf EU-Ebene ist es inzwischen gleichberechtigt, mit Zuständigkeiten in fast jedem Bereich. Das EU-Parlament sei „mächtiger als jedes nationale Parlament in Europa“, sagte der Politologe Andreas Maurer von der Universität Innsbruck gegenüber ORF.at.“

Abgesehen von der „Meinung vieler Politiker“ gibt es auch Fakten. Martin Sonneborn, seit Juni 2014 unabhängiger Abgeordneter im EU-Parlament, hat darüber ein Buch geschrieben: „Herr Sonneborn geht nach Brüssel. Abenteuer im Europaparlament“ (erschienen 2019 im KiWi-Verlag). Über die legislativen Möglichkeiten eines EU-Abgeordneten schreibt er: „Alles was du machen kannst, ist, die Kommission schriftlich zu bitten, sich zu dem Thema Gedanken zu machen und sie dir mitzuteilen. … der Vertrag von Maastricht räumt dem Parlament ein ‚legislatives Initiativrecht‘ ein, das sich jedoch auf die Möglichkeit beschränkt, die Kommission zur Vorlage eines Vorschlags aufzufordern. Und die müssen nicht einmal reagieren.“ (30)

„Eine Große Koalition aus der konservativen ‚Europäischen Volkspartei‘ und der ‚Fraktion der Progressiven Allianz der Sozialdemokraten‘ bestimmt im Plenum die Geschicke Europas. Knappe Abstimmungen gibt es fast nie, zusammen können die beiden größten Fraktionen durchsetzen, was immer ihnen gefällt.“ (41)

„… im Sekundentakt wird abgestimmt. Büroleiter Hoffmann wird später nachzählen, 240 Abstimmungen in 40 Minuten! Den Arm hebe ich schon lange nicht mehr, die Nationalen haben einfach besser trainierte rechte Oberarme. Nur bei den namentlichen elektornischen Abstimmungen bin ich aus tiefer Überzeugung weiterhin dabei. Büroleiter Hoffmann hat mir erklärt, dass mir die halbe Bürojahrespauschale entzogen wird, wenn ich nicht an mindestens 50 Prozent der elektronischen Abstimmungen teilnehme.“ (80)

„Emoationaler Höhepunkt bleibt die aufgeregte Wortmeldung einer sozialdemokratischen Kollegin im Plenum: ‚Entschuldigen Sie, Herr Präsident, aufgrund eines Druckfehlers im Abstimmungspapier hat sich gerade die gesamte Sozialdemokratie verwählt. Ich bitte um Wiederholung der letzten Abstimmung wir sind natürlich für Menschenrechte!‘“ (108)

Um die Vormacht der „Großen Koalition“ im EU-Parlament ad absurdum zu führen, hat sich die „Ein-Mann-Fraktion“ Sonneborn entschlossen, alternierend einmal mit Ja, und einmal mit Nein zu stimmen. Doch es gibt auch wichtige Entscheidungen, bei denen er als Zünglein an der Waage sein Votum gezielt abgibt.

„Ein Vertreter der Kleinparteien, der engagierte Tierschützer Stefan Eck, hat einen Initiativbericht gegen Batteriehaltung von Kaninchen auf den Weg gebracht. Der Initiativreport sei unsere beste Waffe als Parlamentarier, hatte mir der Veganer aus dem Saarland mit leuchtenden Augen erklärt: Wenn seiner jetzt durch das Parlament geht, müsse sich die Kommission damit beschäftigen und - wenn es politisch in die Agenda passt oder für Großkonzerne interessant iwt oder genug öffentlicher Druck aufgebaut werden kann – eventuell sogar einen Gesetzesvorschlag ausarbeiten. … Ich glaube nicht an einen Erfolg im Plenum, versprche aber, meine Stimmen so zu legen, dass die Kaninchen mir dankbar sein können.“ (284)

Raffinierter musste Sonneborn bei der e-Privacy-Entscheidung des Ausschusses für bürgerliche Freiheiten, Justiz und Inneres (englisch Committee on Civil Liberties, Justice and Home Affairs, kurz LIBE) vorgehen, um die Datenschützerfraktion gegenüber den Vertretern der Datenindustrie zu überstimmen. „Eine interessante Auseinandersetzung, fraglos, und irritierend, dass sich im EU-Parlament die Vertreter fundamentaler Bürgerrechte offenbar nicht gegen die Repräsentanten blanken Wirtschaftsinteresses durchsetze können – aber ich bin gar nicht Mitglied im LIBE-Ausschuss. Für die fraktionslosen Abgeordneten sitzt dort Udo Voigt (NPD), zusammen mit Eleftherios Synadinos, meinem unsympathischen rechtsradikalen Sitznachbarn im Plenum.“ (323) Doch eine Regelung, die zuvor nie angewandt wurde, ermöglichte Sonneborn für die abwesenden Kandidaten einzuspringen und im Interesse der Datenschützer abzustimmen.

Ergebnis: „Die ePrivacy-Verordnung wurde angenommen, mit 31 zu 24 Stimmen. Ein solides Ergebnis, denke ich mir, bei sieben Stimmen Unterschied hätte ich morgens auch liegen bleiben können und wundere mich über den völlig parlaments-untypischen Jubel, der auf der rechten Seite des Saales ausbricht. … es ging tatsächlich um die eine Stimme! Der Bericht braucht eine absolute Mehrheit im Ausschuss, damit das Parlament den Auftrag erhält, mit ePrivacy in den Trilog einzusteigen. Und bei 60 Mitgliedern liegt die bei 30 plus 1, die einundreißigste Stimme gab den Ausschlag!“ (327f)

In Zeiten der Political Correctness- und Cancle Culture, in denen alle Massenmedien zu angepassten Hofberichterstattern verkommen sind, die traditionellen Prinzipien des Journalismus (insbesondere investigativer Journalismus) abgeschafft wurden, ist Martin Sonneborn einer der letzten investigativen Humoristen. Ein Hoffnungsschimmer für die Aufklärung zum 300. Geburtstag von Immanuel Kant!

SIEHE AUCH: 99 Ideen zur Wiederbelebung der politischen Utopie