Kleine Geschichte Israels - 12. Ben Gurion und de Gaulle

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12. Ben Gurion und de Gaulle

Bevor ich die Geschichte Israels nach 1985 erzähle, will ich eine kurze historische Reminiszenz einflechten, die strukturell dem ähnelt, was nach 1985 in Israel geschehen sollte.

Im Jahr 1960 besuchte der damalige israelische Ministerpräsident David Ben Gurion den französischen Präsidenten Charles de Gaulle in Paris. Causa prima der französischen Politik war damals der blutige Krieg in Algerien. Algerien war noch immer eine französische Kolonie, doch es strebte die Unabhängigkeit an. In einem erbittert geführten Kleinkrieg kämpften die algerischen Nationalisten gegen die im Land stationierten Einheiten der französischen Armee und gegen die mit ihr verbündeten Siedlerorganisationen. Die Armee, unzufrieden mit der damaligen Regierung, hatte diese zwei Jahre zuvor in einer Art Putsch gestürzt und die Installierung eines Mannes aus ihren Reihen als französischen Präsidenten durchgesetzt. Dieser Mann war General Charles de Gaulle.

Ben Gurion entwickelte seinem Gastgeber einen Plan zur Befriedung Algeriens. Seiner Meinung nach, so erklärte er dem französischen Präsidenten, müsse Algerien geteilt werden. Die fruchtbare Küstenregion müsse französisch bleiben, die Araber aber in den unwirtlichen Süden des Landes abgedrängt werden. Zu diesem Zweck müsse die Zahl der bereits jetzt in Algerien siedelnden Franzosen im Zuge einer französischen Alija um eine Million neuer Siedler vergrößert werden. De Gaulle, der sich innerlich schon zum Frieden durchgerungen hatte und keinen permanenten Krieg wollte, entgegnete seinem rabiaten Gast: „Mon Dieu, Sie versuchen ja, in Afrika ein zweites Israel zu gründen.“

Ben Gurion konnte nicht wissen, dass de Gaulle damals schon fest entschlossen war, Algerien in die volle Unabhängigkeit zu entlassen. Die Alternative der Einstaatenlösung, also Algerien an Frankreich anzuschließen und allen Algeriern die französische Staatsbürgerschaft zu verleihen, hatte de Gaulle verworfen, denn das hätte den Charakter der französischen Nation in einer Weise verändert, die ihm nicht behagte. Der Entschluss, Algerien aufzugeben, ist de Gaulle gewiss nicht leichtgefallen, denn als französischem Patrioten schmerzte ihn jede Minderung der Größe Frankreichs. Doch die Zeichen der Zeit zu verkennen und vor dem Notwendigen, das sie erheischte, die Augen zu verschließen: Dazu war er zu groß. Nicht umsonst hat ihn Otto von Habsburg als den eindrucksvollsten Mann bezeichnet, dem er in seinem langen Leben begegnet ist.

Die Reaktion auf die Politik de Gaulles ließ nicht lange auf sich warten. Als Antwort auf sie gründeten Offiziere der in Algerien stationierten französischen Armee die im Untergrund agierende Terrororganisation OAS (Organisation de l’armée secrète), in die auch die militanten Organisationen der Algerienfranzosen, der sogenannten pieds noirs, eingebunden waren. Es kam zu einer gewaltigen Terrorwelle, der rund 2.200 Menschen zum Opfer fielen; 5.000 wurden verletzt. Fast täglich konnte der Knirps, der ich damals noch war, in den Nachrichten das Kürzel OAS vernehmen. Doch der homme de destin, wie Churchill de Gaulle genannt hatte, konnte sich allem Terror zum Trotz am Ende durchsetzen, den Terror beenden und seinem Land den Frieden bringen, trotz zweier Attentatsversuche, die auf ihn verübt wurden. Man setzte sich an den Verhandlungstisch, und als die Algerier einige Forderungen der Franzosen akzeptiert hatten, wurde Algerien 1962 in die Unabhängigkeit entlassen. Der Großteil der französischen Siedler verließ daraufhin das Land und kehrten nach Frankreich zurück.

Die Parallelen zur israelischen Geschichte sind unübersehbar. Was den Franzosen Algerien war, ist den Israelis das Westjordanland: eine Art Kolonie, die sie seit dem Jahr 1967 besetzt halten und auf der sich vermehrt jüdische Siedler breitgemacht haben, welche die autochthone Bevölkerung am liebsten in die jordanische Wüste schicken würden. Hier wie dort hatten sich die Siedler den besten Boden angeeignet, hier wie dort verarmte dadurch die autochthone Landbevölkerung. Auch Israel hatte seinen homme de destin, und zwar in der Person Jitzchak Rabins. Wie de Gaulle hatte auch Rabin in der Armee seines Landes Karriere gemacht, war zu ihrem Generalstabschef aufgestiegen, wechselte anschließend in die Politik, wo er es ebenfalls bis an die Spitze brachte, indem er Ministerpräsident wurde. Auch er, der zunächst ein Hardliner gewesen war, erkannte schließlich die Zeichen der Zeit und nahm in Angriff, was dem Land dringend nottat, nämlich eine friedliche Lösung des Konflikts des israelischen Volkes mit den Palästinensern. Was ihn hingegen von de Gaulle unterscheidet, ist, dass dieser die auf ihn verübten Attentate überlebte, Rabin hingegen von einem israelischen Fanatiker erschossen wurde.

Israel hatte nur einen Rabin, Frankreich nur einen de Gaulle. Man stelle sich vor, wie es gekommen wäre, wenn das Attentat auf de Gaulle gelungen wäre, jenes auf Rabin nicht.

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Die erwähnten Details der algerisch-französischen Geschichte sind, wie ich glaube, eine gute Illustration der Geschichte Israels ab Jahr 1985. Diese ist geprägt vor allem von den Ereignissen, die sich im Westjordanland oder der Westbank, wie das Westjordanland auch genannt wird, ereignet haben. Rekapitulieren wir: Im Zuge des Krieges von 1948 wurde das Westjordanland, welches gemäß dem Teilungsbeschluss der UNO den Palästinensern gehören sollte, von Jordanien okkupiert. Das war ein Vorgang, den jeder Einsichtige leicht nachvollziehen kann, denn gemäß ihrem Selbstverständnis besetzten die Jordanier mit dieser Okkupation ja nur ein Land, das ihnen von der Weltgemeinschaft ohnehin zugedacht war, denn auch sie fühlten sich als Palästinenser, so gut wie jene Araber, die westlich des Jordans siedelten. Die Trennung der beiden Volksgruppen war eine künstliche, von den Engländern aus politischen Gründen vorgenommene. Das spiegelte sich auch im Namen wider, welchen Jordanien zunächst erhielt, nämlich Transjordanien.

Durch die jordanische Okkupation sollte also das, was von englischer Hand getrennt wurde, vereint werden und zusammenwachsen, was zusammengehörte. Doch dazu ist es nie gekommen, denn das okkupierte Gebiet wurde international nie als Teil des jordanischen Staates anerkannt; über die Gründe dazu kann man spekulieren. Zum einen wollten die arabischen Nachbarstaaten keinen jordanischen Machtzuwachs hinnehmen; zum anderen verfolgten die Zionisten, zumindest die extremen unter ihnen, nach wie vor das Projekt „Großisrael“; mit dem, was ihnen von der UNO zugedacht war, vergrößert um das, was sie 1948 erobert hatten, wollten sie sich nicht begnügen. Eine Vereinigung Jordaniens mit dem Westjordanland hätte ihren nationalen Träumen widersprochen, insbesondere deshalb, weil sich in einem Vereinigten Jordanien beinahe alle heiligen Stätten der Juden befunden hätten. Drittens hätte die Bildung eines gesamtjordanischen Staates auch die Bedeutung der PLO marginalisiert. Diese träumte von einem eigenen Staat und wollte nicht von einem haschemitischen Prinzen regiert werden, wollte vielmehr selbst regieren. Die Ereignisse um den Schwarzen September sprechen für diese Auffassung.

Im Zuge des Krieges von 1967 wurde Jordanien aus dem Westjordanland vertrieben und das Land von Israel besetzt. Das ist es bis heute. Weder wurde es von Israel annektiert, noch an Jordanien zurückgegeben, noch wurde auf der Westbank ein unabhängiger palästinensischer Staat errichtet.

Was die erste Möglichkeit betrifft, so war klar, dass mit einer internationalen Anerkennung der Annexion nicht zu rechnen war. Außerdem hätte sich für Israel die Frage gestellt, was mit den palästinensischen Bewohnern der Westbank geschehen solle. Sie zu vertreiben war vorerst unmöglich, ihnen die israelische Staatsbürgerschaft zu verleihen aber auch, denn das hätte die demographische Zusammensetzung des jungen Staates ungünstig beeinflusst. Einen palästinensischen Staat auf Tuchfühlung zu haben, noch dazu geführt von einer PLO, welche die Vernichtung Israels auf ihre Fahnen geschrieben hatte, schied ebenso aus.

Blieb als letzte Möglichkeit noch die Rückgabe des Westjordanlandes an Jordanien. Das wurde in der Tat erwogen. Das gemäßigte Jordanien unter seinem prowestlichen König als Nachbarn zu haben, schien denkbar, insbesondere als im schwarzen September des Jahres 1970 der jordanische Staat seine Autorität über sein Gebiet wieder hergestellt und die sich wie ein Staat im Staate gebärdende PLO vertrieben hatte.

Retrospektiv gesehen öffnete sich damals für kurze Zeit ein window of opportunity, um zu einer nachhaltigen Friedensordnung zu kommen.

Es wäre so einfach gewesen! Jordanien mit seiner einigermaßen eingeübten Staatlichkeit war zuzutrauen, seine Autorität auch im Westjordanland durchzusetzen. Es hätte dem Westjordanland Autonomie gewähren können, ähnlich der, welche die Südtiroler in Italien haben. Man hätte die versprengten palästinensischen Flüchtlinge des Jahres 1948 sammeln und im Westjordanland ansiedeln können. Dadurch wären diese in einem gewissen Sinn heimgekehrt, zwar nicht in ihre ehemaligen Dörfer, denn diese hatten die Israelis längst geschleift, aber immerhin in eine vertraute Umgebung und zu Menschen ihresgleichen. Durch eine Demilitarisierung des Westjordanlandes hätte man auch den berechtigten Sicherheitsinteressen Israels Genüge tun können. In den Grenzen vor 1967 hatte das Land ja eine sprichwörtliche Wespentaille, denn vom Westjordanland bis zum Mittelmeer sind es stellenweise lediglich zwanzig Kilometer. Die Weltöffentlichkeit aber hätte eine gute Gelegenheit gehabt, tätige Reue für die Fehlentscheidung des Jahres 1947 zu üben, indem man Jordanien bei der Integration der Flüchtlinge wirtschaftlich geholfen hätte. Dass alle mit der hier skizzierten Lösung glücklich gewesen wären, kann nicht behauptet werden, eine Chance zur Normalisierung hingegen wäre sie allemal gewesen, denn in Israel war damals noch die Gründergeneration an der Macht und nicht die Zeloten von heute.

Doch es kam anders. Es kam der Krieg von 1973, und das window of opportunity ging zu; es ist geschlossen bis auf den heutigen Tag, trotz einiger halbaufrichtiger Bemühungen, es wieder zu öffnen.