9. Der Krieg von 1973 und der Ausgleich mit Ägypten
Nassers Nachfolger als ägyptischer Präsident wurde sein Stellvertreter Anwar el Sadat, ein Mann von pragmatischerem Zuschnitt als sein Vorgänger. Durch den Krieg von 1973, den sogenannten Jom-Kipur-Krieg, sollte er die Ehre der ägyptischen Nation wieder herstellen, indem es ihm gelang, das Trauma der Niederlage von 1967 zu überwinden und seine gedemütigte Nation dadurch friedensfähig zu machen.
Der ägyptische Angriff erfolgte am 6. Oktober 1973, am Tag des höchsten jüdischen Festes. Die Ägypter und die mit ihnen verbündeten Syrier hatten dieses Datum gewählt, weil sie hofften, den Stillstand des öffentlichen Lebens, der an diesem Tag in Israel herrscht, für sich ausnützen zu können.
Massiv von Artillerie und Luftwaffe unterstützt, überquerten die Ägypter den Suezkanal und durchbrachen an mehreren Stellen die Bar-Lev-Linie, wie die etwa 200 km lange Verteidigungsanlage genannt wurde, welche die Israelis nach dem gewonnenen Blitzkrieg von 1967 am Ostufer des Suezkanals errichtet hatten. Die ägyptische Armee hatte sich gut auf die ihr gestellte Aufgabe vorbereitet und vollbrachte eine bemerkenswerte logistische Leistung. Hinter der Bar-Lev-Linie wurden Luftlandetruppen abgesetzt, vorne bearbeiteten ägyptische Pioniertruppen mit großen Wasserkanonen die von den Israelis aufgeschütteten Erd- oder Sandwälle und spülten Breschen in diese. Pontonbrücken wurden errichtet, auf denen die Masse der ägyptischen Armee den Kanal, der etwa so breit ist wie die Donau in Wien, überqueren konnte. Diesem Angriff war die dünn besetzte Bar-Lev-Linie nicht gewachsen, sodass sie schnell überrannt wurde; schon vier Tage später war ein bis zu 15 km breiter Streifen entlang des Kanals in ägyptischer Hand. Im Norden aber drangen syrische Truppen ins Gebiet ein, das die Israelis den Syrern 1967 abgeknöpft hatten.
Der ägyptische Angriff überraschte die israelische Führung unter der Ministerpräsidentin Golda Meir, obwohl sie hochrangig vor ihm gewarnt worden war. König Hussein von Jordanien hatte einen Monat zuvor am Gipfeltreffen der Staatschefs Ägyptens und Syriens in Kairo teilgenommen und dort gespürt, dass etwas Großes im Busch war. Da er sich, anders als im Jahr 1967, aus dem Krieg raushalten wollte, sich tatsächlich auch rausgehalten hat, flog er anschließend nach Tel Aviv und teilte seine Befürchtungen der israelischen Regierung mit, freilich ohne ihr den genauen Angriffstermin nennen zu können.
Er war nicht der einzige Warner. Wie erst Jahrzehnte später bekannt wurde, gelang es dem israelischen Geheimdienst mit der Person des Schwiegersohnes des verstorbenen Präsidenten Nasser einen hochrangigen Spion anzuwerben. Dieser konnte das, was König Hussein der israelischen Regierung mitteilte, nicht nur bestätigen, sondern auch noch mit wichtigen Details ausmalen. Doch die israelische Regierung ignorierte diese Warnungen, unternahm nichts und brachte das Land in eine gefährliche Situation. Hätte man die dünn besetzte Bar-Lev-Linie rechtzeitig mit Soldaten aufgefüllt und einen Teil seiner Panzer hinter dieser Linie konzentriert, so hätte man den Versuch der Ägypter, den Suezkanal zu überqueren, abwehren können, ohne größere Verluste hinnehmen zu müssen. Diese Versäumnisse kosteten Monate später Golda Meir das Amt.
So aber hatten die Ägypter das wichtigste Hindernis auf dem Weg nach Israel, den Suezkanal, überwunden; sie hatten auf der Sinaihalbinsel fußgefasst, und ihre Panzer waren bereit, auf das israelische Kernland zu zurollen.
Doch dazu sollte es nicht kommen. Zwar hatten die Israelis den ägyptischen Angriff verschlafen, doch gelang es ihnen weit schneller als von den Ägyptern erwartet, ihre Reserven zu mobilisieren und Verstärkungen in Richtung Suezkanal in Marsch zu setzen. Die vom ägyptischen Angriff und seinen Anfangserfolgen geschockte israelische Regierung erwog auch den Einsatz von Atombomben ― in den israelischen Kriegen immer ein Thema ― und gab den Befehl, die nötigen Vorbereitungen für ihren Einsatz zu treffen. Das rief die USA auf den Plan, für die der Einsatz von Atombomben nur als Ultima Ratio gegen den geopolitischen Rivalen Sowjetunion gedacht, sonst aber absolut tabu war. Israel sollte zwar siegen, zumindest nicht besiegt werden, doch ausschließlich mit konventionellen Mitteln. Zu diesem Zweck wurde von der amerikanischen Regierung unter Präsident Nixon eine gigantische Luftbrücke eingerichtet. Alles was fliegen konnte, wurde aufgeboten, um die Israelis mit militärischem Gerät wie Kampfflugzeugen, Panzern, Kanonen, Munition und dergleichen zu versorgen und die hohen Verluste, die sie hinnehmen mussten, auszugleichen. Schon wenige Tage nach Beginn des ägyptischen Angriffs kam es zu großen Panzerschlachten, die Ägypter wurden besiegt und gezwungen, sich wieder hinter den Suezkanal zurückzuziehen, unter Preisgabe einer ganzen Armee, die ― vom Nachschub abgeschnitten ― auf Sinai zurückbleiben musste und ihrer Vernichtung entgegensah. In weiterer Folge gelang es den Israelis, am Kanal Brückenköpfe zu bilden und ihn auf eilig errichteten Pontonbrücken mit ihren Panzern zu übersetzen. Der Weg nach Kairo war freigekämpft. Auch im Norden hatten die Israelis gesiegt und den syrischen Angriff auf die besetzten Golanhöhen binnen weniger Tage abgewehrt.
Am 22. Oktober forderte auf Druck der Amerikaner der UN-Sicherheitsrat in einer Resolution die Kriegsparteien auf, das Feuer einzustellen. Zwei Tage später schwiegen die Waffen. Die Israelis waren, mit massiver amerikanischer Unterstützung freilich, mit einem blauen Auge davongekommen; sie konnten sich einbilden, gesiegt zu haben, denn sie standen am Westufer des Suezkanals. Auch die Ägypter konnten mit dem Ergebnis des Krieges zufrieden sein. Sie hatten gezeigt, dass sie nicht mehr der inferiore Gegner der Kriege von 1948 und 1967 waren; und die ägyptische Führung konnte dem Volk glaubhaft versichern, man hätte den Krieg gewonnen, wenn die Amerikaner den Israelis nicht massiv geholfen hätten. Die tief gekränkte ägyptische Ehre war also wieder hergestellt. Die Israelis mussten sich zehn Kilometer hinter den Suezkanal zurückziehen, sodass die Ägypter die Wiedereröffnung des blockierten Kanals ins Auge fassen konnten. Er würde bald wieder die wichtige Einnahmequelle für Ägypten werden, die er vor dem Krieg von 1967 gewesen war, doch zuvor musste er von kriegsbedingten Hindernissen wie Minen oder Schiffwracks befreit werden. Und so dauerte es bis zum Jahr 1975, bis der Suezkanal wieder feierlich eröffnet werden konnte.
Präsident Sadat stand auf dem Höhepunkt seines Prestiges und Ansehens. Er hatte inzwischen einen außenpolitischen Kurswechsel vollzogen. Setzte sein Vorgänger Nasser noch ganz auf die Unterstützung durch die Sowjetunion und auf den Sozialismus ― die Sowjetunion hatte die ägyptische Armee bewaffnet und den riesigen Nilstaudamm und das Wasserkraftwerk bei Assuan errichtet ― so wandte sich Sadat nun verstärkt den Amerikanern zu. Von diesen vermittelt, konnten Ägypten und Israel Frieden schließen.
1977 zeigte Sadat der Welt, aus welchem Holz er geschnitzt war, denn er entschloss sich zu einem beispiellosen Schritt, indem er völlig überraschend nach Israel, in die Höhle des Löwen gleichsam, reiste und in der Knesset eine versöhnliche Rede hielt, was ihn in der arabischen Liga isolierte. Das Jahr darauf folgte, von US-Präsident Carter vermittelt, das in Camp David geschlossene Abkommen Sadats mit dem inzwischen zum israelischen Ministerpräsidenten aufgestiegenen ehemaligen Terroristen Menachem Begin. Man schloss Frieden, Israel wurde von Ägypten, dem größten und wichtigsten arabischen Land, diplomatisch anerkannt, der ganze Sinai an Ägypten zurückgegeben. Begin wollte auch den Gazastreifen an Ägypten abtreten, doch Sadat lehnte das Angebot ab. Warum er das tat, darüber kann ich nur spekulieren. Er wollte wohl ohne Not keine Menschen in Ägypten aufnehmen, deren Ziel nach wie vor die Vernichtung des Landes war, mit dem er eben Frieden geschlossen hatte. Aus heutiger Sicht kann man nur bedauern, dass er sich so entschieden hat.
1978 wurde Sadat zusammen mit Begin der Friedensnobelpreis verliehen. 1981, am Jahrestag der Überquerung des Suezkanals durch die ägyptische Armee, wurde Sadat von Gegnern seiner Politik ermordet. An den Trauerfeierlichkeiten nahmen unter anderem die amerikanischen Expräsidenten Carter, Ford und Nixon, der mit Sadat freundschaftlich verbunden gewesene deutsche Bundeskanzler Helmut Schmidt und der französische Präsident Mitterand teil. Wenn man von den Präsidenten des Sudans und von Somalia absieht, erwies kein einziger arabischer Führer dem besonnenen, energischen und mutigen Mann die letzte Ehre. Was soll man nur dazu sagen?
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Was man dazu sagen soll? ― Nun, Präsident Sadat hatte, indem er Frieden mit Israel schloss, die gemeinsame Linie der arabischen Länder verlassen, ihren kleinsten gemeinsamen Nenner gleichsam: die Zerstörung des Staates Israel. Indem sie mit dem Finger auf diesen zeigten und Krokodilstränen ob der armen Palästinenser vergossen, konnten die arabischen Führer Einigkeit demonstrieren, auf der internationalen Bühne an Gewicht gewinnen und von den Schwierigkeiten in den eigenen Ländern ablenken. Man könnte sagen, die Palästinenser wären durch die Politik der arabischen Länder instrumentalisiert worden. Durch Einbürgerung und Integration hätte man den armen Palästinensern, die zum unschuldigen Opfer weltgeschichtlicher Fatalitäten geworden waren, wirksam helfen können. Doch statt ihnen diese Perspektive zu geben, ließ man sie in Lagern leben, wo sie sich zwangsläufig radikalisieren mussten, denn nur als Radikalisierte waren sie für die arabischen Führer und ihre nationalistischen Zwecke zu brauchen. Ihre Wunden sollten daher offengehalten werden und nicht heilen. Eine Ausnahme ist Jordanien, das palästinensischen Flüchtlingen sehr wohl die Staatsbürgerschaft angeboten und auch verliehen hat, wodurch der Druck, den das Flüchtlingsproblem auf Israel ausübte, verringert wurde. Man stelle sich vor, die anderen arabischen Staaten wären dem jordanischen Beispiel gefolgt.
Was den Israelis nach 1948 möglich war, nämlich die Juden, die aus den arabischen Ländern vertrieben wurden, zu integrieren, hätte auch den arabischen Staaten möglich sein müssen, und das umso leichter, als das Verhältnis der Zahl der zu integrierenden Flüchtlinge ― etwa 750.000 sollen es gewesen sein ― zur Bevölkerungszahl der aufnehmenden arabischen Länder klein gewesen wäre. In Israel hingegen musste die damals noch recht kleine Bevölkerung von rund einer Million Menschen einige Hunderttausend Flüchtlinge aufnehmen. Erschwerend kamen im Falle Israels auch noch Mentalitätsunterschiede hinzu, denn der neue Staat war eine europäisch-aschkenasische Gründung, die Flüchtlinge aus den arabischen Ländern aber sephardisch-orientalische Juden.
Ein historisches Beispiel, wie Flüchtlingsströme bewältigt wurden, ist Deutschland. Als im Zweiten Weltkrieg die Rote Armee auf Deutschland vorrückte, mussten Millionen Deutsche aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten ― also aus Ostpreußen, Schlesien und dem Sudentenland ― in das von den Siegern besetzte, am Boden liegende, weil zerbombte Rumpfdeutschland fliehen, unter Zurücklassung ihres gesamten unbeweglichen Besitzes. Und so gibt es seit Kriegsende in den genannten Gebieten keine Deutschen mehr. Man stelle sich den Schmerz eines Bauern vor, der seinen Hof, der seine Felder und Wiesen zurücklassen und mit seiner Familie notdürftig versorgt in einem Barackenlager leben musste. Freilich nicht allzu lange, denn in einer kollektiven Anstrengung haben die Deutschen nicht nur ihr Land wieder hochgebracht, sondern es ist ihnen auch gelungen, diese Flüchtlinge in die deutsche Nachkriegsgesellschaft zu integrieren und so ihre Wunden einigermaßen zu heilen. Wohl trauerten die Geflüchteten ihrer verlorenen Heimat noch Jahrzehnte lang nach, wohl waren ihre Schmerzen noch lange Gegenstand der deutschen Politik, doch zum Zweck der Rückeroberung des Verlorenen instrumentalisiert wurden sie nicht, denn Deutschland stand unter Kuratel. Heute ist das Schicksal dieser unglücklichen Menschen weitgehend vergessen und nur noch Gegenstand der Historie. Wie heißt es doch: Glücklich ist, wer vergisst …