Kleine Geschichte Israels

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von Hans Saenger

Vorwort

Den Alten galt die Geschichtsschreibung als musische Tätigkeit. Die Quellen, aus denen ein antiker Geschichtsschreiber schöpfte, waren in erster Linie sein Gedächtnis und seine Intuition, sein Beistand aber Clio. Als eine von den neun Musen war sie die Schutzgöttin der Geschichtsschreibung, welche den Alten als Kunst galt, nicht aber wie uns Heutigen als Wissenschaft. Nahm ein alter Geschichtsschreiber ein geschichtliches Werk in Angriff, so war es seine erste und wichtigste Aufgabe, den Beistand der Clio zu erflehen, denn ohne diesen konnte nichts Rechtes gelingen.

Die neun Musen hatte Zeus, selbst ein Titanenspross, mit der Titanin Mnemosyne gezeugt. Mnemosyne ist aber nicht nur die Mutter der Musen, sie ist auch die Namensgeberin eines Flusses in der Unterwelt. Im Gegensatz zu Lethe, dem Unterweltfluss des Vergessens, ist Mnemosyne der Fluss des Erinnerns.

Den vorliegenden Text habe ich im Herbst 2023, wenige Wochen nach den Ereignissen vom 7. Oktober begonnen. Da ich das unabweisbare Gefühl hatte, dass sich die Welt auf einen entscheidenden Punkt zubewegt, wollte ich etwas schreiben, so wie ich bereits die beiden anderen Megaereignisse der letzten Jahre, die Coronakrise und die Ereignisse in der Ukraine, gedanklich und mit der Feder in der Hand begleitet habe. Freilich wollte ich mich nicht der Gefahr aussetzen, dass ich etwas zu Papier bringe, was von den Ereignissen überholt sein könnte, noch ehe gleichsam meine Tinte trocken sein würde. Ich widerstand also der Versuchung, den Propheten zu spielen ― das möge die Sache von Berufeneren bleiben. So verfiel ich auf den Gedanken, mich mit der israelischen Geschichte zu beschäftigen, meine punktuellen Erinnerungen an diese aufzufrischen und meine Wissenslücken, so gut als es mir möglich war, zu schließen.

Der israelische Staat, der 2023 das Jubiläum seines 75-jährigen Bestehens gefeiert hat, ist nur ein Jahr älter als ich selbst. In den Fokus meines damals noch sehr naiven Interesses geriet er das erste Mal im Jahr 1967, anlässlich des Siebentagekrieges; beinahe alles, was sich vor diesem Zeitpunkt ereignet hatte, war mir damals unbekannt; geläufig waren mir allenfalls die Namen Ben Gurion oder Weizmann, freilich, ohne dass ich genau gewusst hätte, welche Rolle die beiden Männer bei der Gründung des Staates Israel und in den ersten Jahren seiner Geschichte gespielt hatten. Wohl lernte ich seit diesen fernen Jugendtagen einiges über Israel dazu, doch blieb mein Wissen lückenhaft, fragmentarisch, punktuell, bis ich vor wenigen Wochen begann, mich mit der Geschichte des Landes zu beschäftigen. Noch schlechter freilich war es um meine Kenntnisse dessen bestellt, was sich vor dem Jahr 1948, also gleichsam im Embrionalstadium des Staates Israel, zugetragen hatte. Und diese Geschichte zu kennen, wäre wohl das Allerwichtigste, wie es das Allerwichtigste wäre, von unserer individuellen Biographie dasjenige zu kennen, was sich zugetragen hat, als wir im Leib unserer Mutter saßen, in unserem eigenen Embrionalstadium also.

Der entstandene Text ist daher, wie viele andere aus meiner Feder, in erster Linie ein Versuch der Selbstbelehrung und ein Dokument dieses Versuches. Darüber hinaus ist es auch ein Versuch, einer verhängnisvollen Tendenz unserer konfliktreichen Zeit entgegenzuwirken, nämlich der Ausblendung der Vorgeschichte eines Konfliktes. Man könnte das Geschichtsvergessenheit nennen. Als Beispiel dafür kann der Ukrainekrieg gelten, wo man uns unablässig einzureden versucht, er hätte begonnen durch den unprovozierten Überfall Russlands auf die Ukraine. Doch jeder Konflikt, zumal einer von der Schwere des Ukrainekrieges, hat seine Vorgeschichte, und Gerechtigkeit ist nur möglich, wenn man auch diese kennt und in sein Urteil einbezieht. Ihre Vorgeschichte hat auch die Attacke der Hamas auf Israel vom 7. Oktober 2023 ― sie ist bereits mehr als hundert Jahre lang. Die Attacke zu verurteilen ist leicht, wenn man ihre Vorgeschichte ausblendet, wenn man so tut, als wäre sie ein Blitz aus wolkenlosem Himmel gewesen. Ich will niemanden tadeln, wenn er es vorzieht, zu vergessen, statt sich zu erinnern; wenn er, um im Bild zu bleiben, es also vorzieht, Lethe statt Mnemosyne zu trinken. Nur möge er dann schweigen und sich des Urteils enthalten. Man tadle aber auch mich nicht, wenn ich es selbst umgekehrt halte.

Wenn einer wie ich seit nunmehr fünfundfünfzig Jahren in Wien lebt, hat er nur zwei Möglichkeiten: entweder der Ignorant zu bleiben, der er war, als es ihn in diese Stadt verschlagen hat, oder nach und nach zum Historiker zu werden, freilich zu keinem professionellen, sondern zu einem höchst amateurhaften. Der nachstehende Text ist das Werk eines solchen, nicht mehr, aber auch nicht weniger. Er ist aber auch die Basis für weitere Tauchgänge in die Tiefen der Zeit.

Wien, im Mai 2024

Hans Saenger


1. Einleitung

Wahrhafte Geschichtsschreibung ist eine musische Tätigkeit. Sie ist selten, denn viel häufiger ist sie aller Rottenmeister Gaukelsack. Ob der folgende Text verdient, wahrhafte Geschichtsschreibung genannt zu werden, will ich nicht behaupten. Wahrscheinlich ist sie auch nur eine Art Gaukelei, ging doch mein Ehrgeiz immer schon nach einer bunten Jacke. Rottenmeister aber, welche die Geschichte als ein Mittel ansehen, Menschen unter das Joch einer gemeinsamen konstruierten Geschichte zu zwingen, um auf diese Art Macht zu gewinnen: Ein solcher Rottenmeister bin ich jedenfalls nicht. Beispiele solcher schwerwiegenden Joche wären die Bezeichnungen Slowene, Österreicher oder Deutscher. Oder die Bezeichnung Jude, das schwerste aller Joche.

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Ich weiß nicht mehr, wie der kleine Globus, der in meiner Wohnung steht, in meinen Besitz gekommen ist. Er misst nicht viel mehr als zehn Zentimeter im Durchmesser, ist also ungefähr so groß wie ein größerer Apfel oder, wenn man will, so groß wie der Reichsapfel, den man in der Schatzkammer zu Wien aufbewahrt. Trotz seiner geradezu lächerlich zu nennenden Kleinheit leistet mir mein Globus doch ab und zu wertvolle Dienste, denn er erlaubt mir, ein Gefühl für die globalen Proportionen zu entwickeln.

Beispiele für die Nützlichkeit meines Globus wären folgende. In den Tagen der Arbeit an diesem Text haben die jemenitischen Houthis für Schiffe, die nach einem israelischen Hafen unterwegs sind, die Einfahrt ins Rote Meer gesperrt. Es bleibt solchen Schiffen, wenn sie doch nach Israel wollen, daher nichts anderes übrig, als den weiten Weg um Afrika herum zu machen. Ein Blick auf meinen Miniglobus belehrt mich anschaulich, was das bedeutet. Die Entscheidung, welchen Weg es nehmen soll, muss ein Schiff, das vom indischen Ozean nach Israel will, schon am Horn von Afrika treffen. Wenn ein Schiff den kurzen Weg nehmen kann, so sind es nach der an der Nordspitze des Golfes von Akaba gelegenen israelischen Stadt Eilat noch rund 3000 Kilometer; etwa gleich weit ist es auch, wenn das Schiff durch den Suezkanal fährt und die Mittelmeerhäfen Jaffa oder Haifa ansteuert. Muss das Schiff jedoch um das Kap der Guten Hoffnung fahren, sind es nach Jaffa oder Haifa mehr als 20.000 Kilometer, ein veritabler Umweg also. Nach Eilat jedoch hat es nicht einmal die Möglichkeit des Umwegs. Ist die Einfahrt ins Rote Meer gesperrt, erreicht kein Schiff seinen Hafen.

Ein weiteres Beispiel für die Nützlichkeit meines Globus: Dieser Tage wurde der vor einigen Monaten gestürzte pakistanische Ministerpräsident zu einer langjährigen Gefängnisstrafe verurteilt. Sein „Verbrechen“: Er hatte seinem Land Neutralität verordnen wollen, und das in einer Zeit, in der in Washington die Kriegstrommeln gegen den Iran gerührt werden. Ein Blick auf meinen Miniglobus belehrt mich, dass Pakistan eine lange Grenze zum Iran hat. Der Iran könnte daher im Westen vom Irak, im Osten aber von Pakistan in die Zange genommen werden. Ideal wäre es, würde Pakistan den Aufmarsch amerikanischer Truppen und die Stationierung amerikanischer Raketen auf seinem Boden nicht nur gestatten, sondern als Verbündeter auch aktiv am Krieg teilnehmen. Ein neutrales Pakistan ist daher das letzte, was die Washingtoner Geo-Strategen brauchen, wenn man von einer neutralisierten Ukraine absieht.

Nur was Israel betrifft, ist mein Globus von keinem vordergründigen Nutzen. Angesichts seiner Kleinheit ist das Gelobte Land auf ihm höchstens erahnbar; erkennbar ist es nicht. Doch vielleicht ist gerade das sein größter Nutzen, denn er lässt mich das Missverhältnis zwischen diesem Stäubchen vom globalen Staube und der Anteilnahme, welche die Weltöffentlichkeit an ihm nimmt, erkennen. Freilich bestand ein Missverhältnis ja auch zwischen dem Ersten Weltkrieg mit seinen rund zehn Millionen Toten und seinem relativ nichtigen Anlass: der Ermordung des österreichischen Thronfolgers in Sarajewo. Aus dieser Perspektive betrachtet ist die Anteilname der Weltöffentlichkeit an den Ereignissen in Israel verständlich. Gewiss ist das Land im globalen Maßstab gesehen nur ein Stäubchen, doch das Potential, einen neuen Weltbrand zu entfachen, der dann als Dritter Weltkrieg zu verzeichnen wäre, hat es allemal, vor allem wegen des beängstigend wachsenden Konfliktpotentials in der Welt, nicht zuletzt aber wegen der Atombomben, über die Israel dem Vernehmen nach verfügen soll. Daher ist ein Blick auf seine Geschichte angebracht ― für unsereinen wenigstens.


2. Anfang im osmanischen Reich

Eine traditionelle Zufluchtsstätte der in Europa verfolgten Juden war das osmanische Reich. So gingen gegen Ende des 15. Jahrhunderts viele aus Spanien und Portugal vertriebene Juden ins osmanische Exil, und zwar auf Einladung des osmanischen Sultans. Der vielleicht berühmteste Nachkomme dieser jüdischen Exilanten war Elias Canetti, Nobelpreisträger für Literatur. Auch in Palästina gab es daher schon lange vor der zionistischen Landnahme kleine jüdische Gemeinden. Im Jahr 1860 umfassten sie rund 12.000 Menschen. Sie sprachen arabisch oder judenspanisch, einen Dialekt, der sich zum Spanischen verhält wie das Jiddische zum Deutschen. Mit den Arabern lebten sie in Frieden.

Vor diesem Hintergrund ist es verständlich, dass um das Jahr 1900 viele von Pogromen heimgesuchte osteuropäische Juden, die meisten von ihnen Untertanen des russischen Zaren, Europa verließen und sich auch im osmanischen Reich ansiedelten, vor allem in Palästina, dem Land der jüdischen Sehnsucht.

Begonnen hat die jüdische Einwanderung aus Europa bereits in der letzten Dekade des 19. Jahrhunderts, als einige tausend Juden nach Israel kamen und dort, von der Familie Rothschild finanziell unterstützt, landwirtschaftliche Mustersiedlungen errichteten.

Die Geschichte des Staates Israel ist eng mit der sogenannten Kibbuz-Bewegung verbunden. Nachdem in Russland 1905 die Revolution vorerst gescheitert war, wanderten 40.000 junge russische Juden nach Palästina aus, mit kommunistischen oder anarcho-sozialistischen Ideen als ideologisches Reisegepäck. In Nordpalästina, in der Nähe des Sees Genezareth, wurden von diesen Einwanderern die ersten Kibbuze gegründet. Zionisten, also solche, die in Palästina einen jüdischen Staat gründen wollten, waren diese Pioniere nicht: Anarchismus und Staat vertragen sich schlecht. Und nicht zuletzt hätte das die osmanische Reichsmacht herausgefordert.

Die Kibbuze waren landwirtschaftliche Genossenschaften, darin den späteren Kolchosen in der Sowjetunion ähnelnd, aber ohne die Fuchtel eines übergriffigen Staates im Hintergrund. Den Boden, den die Kibbuzniks1 bewirtschafteten, hatten sie gekauft, nicht erobert. Man war bestrebt, möglichst autark zu sein, man war wachsam und bereit, den Kibbuz nach außen zu verteidigen. Reibungen mit den Arabern gab es zwar schon damals, denn der Boden, den die Juden gekauft hatten, gehörte zuvor meist arabischen Großgrundbesitzern und war an arabische Bauern verpachtet gewesen. Doch diese Pächter mussten weichen, denn die Kibbuzniks wollten ihren Boden selbst bewirtschaften. Als Menschen, die in Europa vom Bodenbesitz traditionell ausgeschlossen waren, versprachen sie sich vom Kontakt mit der eigenen Erde die eigene Gesundung. Auf freiem Grund wollten sie stehen, ein freies Volk wollten sie werden, wehrhaft wollten sie sein, und von ihrer Hände Arbeit wollten sie leben. Es gab also Reibereien, doch dünn besiedelt, wie das Land damals noch war, hielten sich diese in Grenzen.

Die ideologische Ausrichtung dieser jüdischen Siedler kann man eine sozialistisch-anarchistische nennen. Man war zwar Untertan des Sultans, doch die Osmanen waren bequeme Herren, die mit sich reden ließen, solange man seine Steuern zahlte und ihre Herrschaft nicht bedrohte; solange man also arbeitete und das zuvor recht öd gewesene Land zum Blühen brachte. Und das taten die Kibbuzniks. Waren sie religiös? Nun sie waren, wie mir scheint, eher Atheisten und Juden nur in dem Maße, wie man heute bei uns Christ ist. Nur eine kleine Minderheit geht bei uns noch in die Kirche, doch die kirchlichen Feste wie Weihnachten oder Ostern werden noch immer von den meisten gefeiert.

Alles in allem waren diese Siedler Pioniere im besten Sinne des Wortes. Im rückständigen Vielvölkerreich der Osmanen waren sie ein fortschrittliches Element, das den Jungtürken, wie man die damaligen Machthaber im osmanischen Reich nannte, willkommen war, weil es deren erklärtes Programm war, die Rückständigkeit ihres Reiches gegenüber Europa zu verringern. Im Gegensatz zu den Siedlern, die sich heute auf der Westbank ausgebreitet haben, gilt diesen Pionieren meine Sympathie. Es war die von ihnen getragene Kibbuzbewegung, die das positive Bild prägte, das ich, der ich von slowenischen Rosentaler Subsistenzbauern abstamme, in meiner Jugend von Israel hatte. Wenn man dem kommunistischen Ideal irgendwo und irgendwann auf der Welt nahegekommen ist, so war es hier.

Die Idylle dauerte nur wenige Jahre. Vermehrt kamen Juden ins Land, die ein anderes ideologisches Reisegepäck mitbrachten als die anarcho-sozialistischen Kibbuzniks, nämlich den Zionismus. Im 19. Jahrhundert hatte in Europa der Nationalismus Orgien gefeiert ― da wollten auch viele Juden nicht zurückstehen und glaubten, wie zuvor die Italiener oder die Deutschen, ihr Heil in einem eigenen Staat finden zu müssen. Ideologisch unterfüttert wurde das Projekt der Staatsgründung von Theodor Herzls berühmtem, 1896 erschienenen Buch „Der Judenstaat“. Die erste Bruchlinie in der jüdischen Besiedlung Palästinas tat sich damit auf. Man schaue sich nur Fotos von den damaligen Kibbuzniks an, vergleiche sie mit den Fotos der führenden Zionisten, und man wird verstehen, was ich meine: hier die einfach gekleideten fröhlichen Kibbuzniks mit ihren von Wind und Sonne gebräunten Gesichtern, mit ihren schwieligen, von Krampen und von Spaten breitgewordenen Händen, dort die bourgeoisen Zionisten, angetan mit Frack, steifem Kragen und selbstverständlich mit Zylinderhut.

Das zweite, die anarchistische Idylle störende, ja zerstörende Ereignis war der Ausbruch des Ersten Weltkriegs in Europa, als die europäischen Nationen übereinander herfielen und der Nationalismus seine blutige Fratze enthüllte. In den Strudel des Krieges geriet auch das mit den Mittelmächten verbündete osmanische Reich, denn es wurde von den europäischen Kolonialmächten England und Frankreich, aber auch von seinem Erzfeind Russland angegriffen. Schon lange nannte man es den kranken Mann am Bosporus, jetzt wollte man es zerschlagen und sich an seinen Trümmern gütlich tun.

Das Reich der Osmanen war noch immer riesig, obwohl es im 19. Jahrhundert mit Ägypten die letzte seiner nordafrikanischen Besitzungen verloren hatte, in den 1912 und 1913 ausgefochtenen Balkankriegen aber den Großteil der ihm verbliebenen europäischen Provinzen. Auch Bosnien gehörte nicht mehr zum Reich, denn es wurde von der Habsburger Monarchie im Jahr 1878 okkupiert, im Jahr 1908 aber annektiert. Am Vorabend des Ersten Weltkrieges umfasste das osmanische Reich neben der heutigen Türkei das Gebiet der heutigen Staaten Syrien, Libanon, Israel, Jordanien und Irak. Auch ein Teil des heutigen Saudi-Arabien stand noch unter der Oberherrschaft der Osmanen, und zwar der Hedschas, wie man den westlichen, an das Rote Meer grenzenden Teil des heutigen Saudi-Arabien nennt, in dem der Islam seinen Ausgang nahm und wo sich seine heiligen Städte Mekka und Medina befinden. Beherrscht wurde der Hedschas seit beinahe tausend Jahren von den sogenannten Scherifen von Mekka, freilich nie ganz souverän, sondern immer unter wechselnder Oberherrschaft. 1914 stand das Gebiet also unter der nominellen Oberherrschaft der Osmanen, als Großscherif von Mekka aber herrschte Hussein ibn Ali, ein Spross der Haschimitendynastie, die ihre Abstammung bis auf den Propheten Mohammed zurückführen konnte. Er und seine Söhne sollten im Nahen Osten noch eine große Rolle spielen.

Da der osmanische Sultan zugleich auch Kalif war, also das religiöse Oberhaupt des Islam, war die Herrschaft über den Hedschas für sein Prestige von großer Bedeutung. Freilich war das osmanische Reich groß und der Sultan in Istanbul zweitausend Meilen von Mekka entfernt, und das in einer Zeit ohne die modernen Verkehrs- und Nachrichtenverbindungen von heute. Die Scherifen von Mekka waren deshalb für die Osmanen das, was man anderenorts unsichere Kantonisten nennt. Um sich ihre Loyalität zu sichern, nahmen sie daher immer wieder Mitglieder der Herrscherfamilie als Geiseln. So hatte auch Hussein ibn Ali seine Jugend in Istanbul verbracht, ja verbringen müssen.


3. Der Erste Weltkrieg

Das Misstrauen der Osmanen war nicht unbegründet, denn der Großscherif sollte während des Ersten Weltkriegs zum Zentrum des von den Engländern angezettelten Aufstands der Araber gegen das osmanische Reich werden, wobei sich besonders ein Mann hervortat: T. E. Laurence, der nach dem Krieg unter dem Namen Laurence von Arabien berühmt werden sollte.

1914 trat also das osmanische Reich auf Seiten der Mittelmächte Deutschland und Österreich-Ungarn in den Weltkrieg ein und kämpfte gegen die Entente seinen Todeskampf. Im Nordosten, in der Gegend von Erzurum, kämpfte es gegen seinen alten Feind Russland; gegen England, seinen ehemaligen Verbündeten im Krimkrieg, aber kämpfte es in Palästina und im heutigen Irak. Erwähnung verdient noch eine dritte Front: Im Jahr 1915 versuchten die Engländer, unterstützt von den Franzosen, mit Kriegsschiffen über die Dardanellen und das Marmarameer nach Istanbul durchzubrechen, doch gelang es den Türken, diesen Angriff zurückzuschlagen, wobei sich ein junger türkischer Kommandeur besonders hervortat: der spätere türkische Präsident Mustafa Kemal, genannt Atatürk.

Von den Engländern2 angestachelt, weckte oder verstärkte der Krieg ― man kann es nicht oft genug wiederholen ― die nationalen Ambitionen der von den Osmanen beherrschten Araber, insbesondere weil man ihnen im Fall der absehbaren osmanischen Niederlage ihre staatliche Unabhängigkeit versprochen hatte. Mit der Duldsamkeit der Osmanen, die wie gesagt ihren Todeskampf kämpften, war es naturgemäß schnell vorbei. Das mussten insbesondere die im Grenzgebiet zu Russland siedelnden Armenier erfahren, die im russisch-osmanischen Krieg zwischen die aufmarschierenden Armeen gerieten. Von osmanischer Seite wurde ihnen vorgeworfen, sie würden sich illoyal verhalten und die Russen unterstützen. Die osmanischen Behörden beschlossen daher, alle Armenier aus dem Kriegsgebiet zu deportieren. Ihr trauriges Schicksal ist bekannt. Sie wurden zu Hunderttausenden in die syrische Wüste getrieben und mussten marschieren, bis sie entkräftet umfielen, liegen blieben und starben. Rund eine Million Menschen sollen auf diese Weise umgekommen sein. Dass es ein Genozid war, bestreiten die Türken bis heute.

Der Krieg gab dem zionistischen Projekt neuen Auftrieb. War vor dem Krieg das Projekt einer jüdischen Staatsgründung auf osmanischem Boden noch ziemlich unrealistisch, im Falle einer Niederlage der Osmanen jedoch würde ihr Reich zerfallen, die neuen Grenzen im Nahen Osten aber würden von den kolonialistischen Siegermächten gezogen werden. Dass die Zionisten die Niederlage des osmanischen Reiches erhofften und sich mit großer Mehrheit auf die Seite der Entente schlugen, versteht sich beinahe von selbst. Freilich taten das nicht alle. Prominentestes Gegenbeispiel ist Mosche Scharet, Weggenosse David Ben Gurions und sein Nachfolger im Amt der israelischen Ministerpräsidenten. Er hatte sich 1916 zum Dienst im deutsch-türkischen Heer gemeldet. Scharet muss ein braver Soldat gewesen sein, denn er wurde sowohl mit dem deutschen Eisernen Kreuz als auch mit der osmanischen Verdienstmedaille ausgezeichnet.

Als Personifizierung der zionistischen Hoffnungen auf einen Sieg der Entente kann der aus Odessa stammende Zionist Wladimir Jabotinsky angesehen werden. Hatte er im Auftrag der zionistischen Weltorganisation in den Jahren vor dem Ausbruch des Weltkrieges noch mit den osmanischen Behörden verhandelt ― man kann sich vorstellen in welcher Sache ―, so regte er, als es 1914 zum Krieg kam, die Aufstellung einer jüdischen Legion an, die auf der Seite der Engländer gegen die Osmann kämpfen sollte. Doch wurde diese Legion erst im palästinensischen Schicksalsjahr 1917 aufgestellt, weil die Engländer diesen Vorschlag zunächst ablehnten. Sie waren im Begriff, die Araber gegen die Osmanen aufzuwiegeln und hatten ihnen weitreichende Zusagen gemacht. Sie setzten offensichtlich mehr auf sie als auf die damals noch vernachlässigbar wenigen zionistischen Juden Palästinas. Und eine Kooperation der Engländer mit den Zionisten hätte das Engagement der Araber für die Sache der Engländer zumindest sehr gedämpft.

Neben der Aufstellung der jüdischen Legion kam es Anfang November 1917 zu einem weiteren schicksalsschweren Ereignis, nämlich zur Balfour-Deklaration. Diese war ein kurzes, an ein führendes englisches Mitglied der Rothschildfamilie gerichtetes Schreiben, in dem der damalige englische Außenminister Balfour dem zionistischen Projekt, für die Juden in Palästina eine Heimstätte zu errichten, das Wohlwollen und die Unterstützung der englischen Regierung aussprach. Eine Heimstätte wohlgemerkt, keinen Staat ― das Kind beim Namen zu nennen vermied Balfour.

Ich kann nur mutmaßen, warum die Engländer ihre Politik, was die Gründung eines jüdischen Staates anbelangte, änderten. Jedenfalls waren sie für die Materialschlachten, die bald nach dem Ausbruch des Weltkrieges folgen sollten, nicht genügend gerüstet. Sie mussten daher in den USA riesige Mengen an Kriegsmaterial zukaufen, und zwar auf Kredit. Dass sie zu diesem Zweck das Wohlwollen der jüdischen Hochfinanz brauchten, darf zumindest vermutet werden; und diese betrachtete die Errichtung einer jüdischen Heimstätte in Palästina naturgemäß mit Interesse und Wohlwollen, denn wie bereits erwähnt hatten die Rothschilds schon vor der Jahrhundertwende in Palästina die Errichtung von jüdischen Mustersiedlungen finanziert.

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Die Zionisten hofften also auf den Sieg der Entente und auf die Niederlage der Osmanen, was aus der Sicht dieser natürlich Hochverrat war. Es ist daher kein Wunder, dass sie den palästinensischen Juden ein ähnliches Schicksal wie den Armenieren bereiten wollten. Dass das zionistische Baby nicht schon in der Wiege erwürgt wurde, verdankt es ― welche Ironie der Geschichte! ― ausgerechnet einem Deutschen: dem General Erich von Falkenhayn, damals osmanischer Feldmarschall. Falkenhayn war nicht irgendwer. Vor dem Krieg preußischer Kriegsminister, wurde er bald nach Kriegsbeginn deutscher Generalstabschef, als solcher 1916 für das Desaster bei Verdun verantwortlich gemacht und abgelöst, worauf er in den Dienst der Osmanen trat. Er war nicht der einzige deutsche Spitzenmilitär, der im Ersten Weltkriegs auf türkischer Seite kämpfte. Die Türken galten, ja gelten bis auf den heutigen Tag, als sehr gute Soldaten, doch die Führung ihrer Armeen war nicht auf der Höhe der Zeit. Also glaubte das Deutsche Reich, seinem Verbündeten diesbezüglich unter die Arme greifen zu müssen und half ihm mit erfahrenen Truppenführern aus. Als Falkenhayn erfuhr, was die osmanischen Behörden mit den Juden Palästinas vorhatten, drohte er mit dem Eingreifen der von ihm befehligten Armee, sollten die osmanischen Behörden mit den Deportationen beginnen, worauf diese unterblieben.

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In ihrem Bestreben, den Seeweg durch das Mittelmeer und den Suezkanal nach Indien, ihrem damaligen Kronjuwel, zu sichern, hatten die Engländer Ende des neunzehnten Jahrhunderts Ägypten besetzt und das Land in eine englische Kolonie verwandelt. Ein wichtiges strategisches Kriegsziel der Mittelmächte war es daher, sich des Suezkanals zu bemächtigen und die Engländer aus Ägypten zu vertreiben, was für diese ein schwerer Schlag gewesen wäre. Nachdem die Osmanen in den ersten Kriegsjahren zweimal vergeblich versucht hatten, zum Suezkanal vorzustoßen, starteten die Engländer 1917 von Ägypten aus eine Offensive gegen Palästina. Schon wenige Tage nachdem Balfour seine Deklaration gemacht hatte, fiel Jerusalem. Ein Jahr später war der Weltkrieg aus, und die Sieger machten sich daran, sowohl in Europa als auch im Nahen Osten die Grenzen neu zu ziehen. Während es in Europa relativ schnell zur Bildung von neuen Staaten wie Polen, Jugoslawien oder der Tschechoslowakei kam, ließen sich die Sieger im Nahen Osten Zeit.

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Der Kampf der Araber gegen ihre osmanischen Oberherren ist als Arabische Revolte bekannt. Ihren Ausgang nahm sie 1915 im Hedschas, unter der Führung des oben erwähnten Großscherifs von Mekka, Hussein ibn Ali. Von englischen Zusagen und vom englischen Geld dazu ermutigt, versprach sich dieser nach der Niederlage der Osmanen im Weltkrieg einen großarabischen Staat, mit einem Araber von Geblüt an der Spitze, nämlich mit seiner erlauchten Person.

Schon 1915 hatte der Großscherif seinen Sohn Faisal nach Damaskus entsandt, wo dieser Kontakte mit den syrischen Nationalisten knüpfte. Damaskus sollte wohl, wie seinerzeit unter den Umayyaden3, Hauptstadt des geeinten Arabiens werden. Vom peripher gelegenen Mekka aus wäre das riesige Reich ja kaum zu regieren gewesen.

Prinz Faisal war eine schillernde Gestalt. Vom britischen Agenten T. E. Lawrence dabei unterstützt, führte er als Befehlshaber einer kleinen, nur wenige tausend Mann starken Beduinenarmee gegen die Osmanen eine Art Kleinkrieg, tauchte mit seiner Streitmacht aus dem Nichts der Wüste ebenso schnell auf, als er in diesem Nichts wieder verschwand. Als sich gegen Ende des Krieges die Osmanen aus Damaskus zurückziehen mussten, besetzte er mit seinen Wüstenkriegern die Stadt, nachdem er zuvor schon die Stadt Akaba eingenommen hatte.

An der Friedenskonferenz im Jänner 1919, welche die Sieger des Weltkrieges unter Ausschluss der Besiegten in Paris abhielten, nahm Faisal, begleitet von seinem Waffenbruder T. E. Lawrence, als arabischer Delegierter teil, denn wer mitgekämpft hat, dem gebührt auch ein Platz am Verhandlungstisch. In Paris traf sich Faisal auch mit dem zionistischen Delegierten, dem späteren ersten Präsidenten Israels Chaim Weizmann. Dieser, ein Wissenschaftler von Rang, in der Wissenschaftswelt hervorragend vernetzt, mit Einstein befreundet und während des Krieges in englischen Diensten, hatte maßgeblichen Anteil am Zustandekommen der Balfour-Deklaration gehabt. Die beiden Herren scheinen sich gut verstanden zu haben, denn sie unterzeichneten ein nach ihnen benanntes Abkommen, in dem die gemeinsame Abstammung der Juden und der palästinensischen Araber betont wurde und in dem Faisal die Errichtung eines jüdischen Staates in Palästina begrüßte, allerdings unter dem Vorbehalt, dass auch der von den Engländern in Aussicht gestellte arabische Gesamtstaat zustande käme, und zwar mit seiner Familie, den Haschimiten, an der Spitze.

Nach Damaskus zurückgekehrt, wurde Faisal Anfang 1920 vom syrischen Nationalkongress als König von Großsyrien ausgerufen, einem Gebiet, das neben dem heutigen Syrien auch noch Palästina und die heutigen Staaten Libanon und Jordanien umfassen sollte. Da man im Irak seinen Bruder Abdallah zum König ausgerufen hatte, schienen die Haschimiten ihrem Ziel sehr nahegekommen zu sein. Doch die kalte Dusche folgte auf dem Fuß, denn die beiden Haschemitenprinzen hatten die Rechnung ohne den Wirt, die siegreichen Ententemächte England und Frankreich, gemacht. Diese hatten mitten im Krieg das sogenannte Sykes-Picot Abkommen getroffen und die Trümmer des osmanischen Reiches vorsorglich unter sich aufgeteilt. Nach dem Krieg ließen sie sich dieses zunächst geheim gehaltene Abkommen vom eben gegründeten Völkerbund absegnen und ihre Kriegsbeute zu ihren Mandatsgebieten erklären. Unter Berufung auf dieses Abkommen landeten einige Monate nach der Krönung Faisals französische Truppen in Syrien, besiegten die Syrer in einem minderen Gefecht und stürzten König Faisal, der darauf ins englische Exil ging. Auch sein Bruder Abdallah konnte sich nicht auf dem irakischen Thron behaupten.


4. Zwischenkriegszeit

Es gibt den Witz, wo ein Jude einem anderen sagt: „Wenn uns die Engländer schon ein Land schenken, das ihnen nicht gehört ― warum haben sie uns nicht die Schweiz geschenkt?“ ― Das Fell des Löwen zu verteilen, bevor dieser zur Strecke gebracht werden konnte, war gängige Praxis des damaligen Hegemons England. Schon drei Jahre vor Kriegsende hatten sich England und Frankreich also darüber verständigt, was nach der Niederlage des osmanischen Reiches mit dessen arabischen Provinzen geschehen soll und diese unter sich aufgeteilt. Die Franzosen sollten das Gebiet des heutigen Syriens und des Libanon als Mandat zugesprochen bekommen, die Engländer aber die Gebiete des heutigen Iraks, Jordaniens und Palästinas. So ist es schließlich gekommen. Es ist sehr verständlich, dass das Sykes-Picot Abkommen, benannt nach den beiden Diplomaten, die es aushandelt hatten, geheim gehalten wurde, denn es stand im krassen Widerspruch zu den Versprechungen, die die Engländer den Arabern gemacht hatten. Um sie zum Aufstand zu bewegen, hatte man ihnen nach Kriegsende die Errichtung eines Staates in Aussicht gestellt, der alle arabischen Provinzen des besiegten osmanischen Reiches umfassen sollte. Nun, da die Araber ihre Schuldigkeit getan hatten und der altersschwache osmanische Löwe zur Strecke gebracht war, wollten die kolonialistischen Sieger davon nichts mehr wissen.

England und Frankreich waren damals die führenden Kolonialmächte ― mit Völkern und Provinzen zu jonglieren lag ihnen daher im Blut, und das auf eine Weise, die heute kaum mehr verständlich ist. So wurden nicht nur den Arabern und den Juden Versprechungen gemacht, sondern auch den Italienern, die für den Wechsel auf die Seite der Entente Teile der osmanischen kleinasiatischen Inselwelt bekommen sollten, zum Beispiel Rhodos, aus der Konkursmasse der Habsburgermonarchie aber Südtirol und Dalmatien.

Inwiefern die Verträge, welche die Sieger des Weltkriegs in Versailles und Saint Germain mit den Besiegten geschlossen haben, Mitschuld an der Katastrophe des Zeiten Weltkriegs tragen, will ich hier nur andeuten, indem ich an Churchill erinnere, der von den Torheiten der Sieger sprach. Im Nahen Osten hatten sich die kolonialistischen Jongleure jedenfalls übernommen ― zu viele Bälle waren in der Luft zu halten, zwangsläufig musste es früher oder später zu Kollisionen unter ihnen kommen.

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Das Völkerbundmandat für Palästina war mit dreißig Jahren befristet. Spätestens nach Ablauf dieser Frist, also spätestens 1948, sollten sich die Engländer zurückziehen und mehr oder weniger souveränen, freilich erst zu schaffenden Staatsgebilden Platz machen. Einstweilen hielt man, westlich-kolonialistisch-überheblich wie man war, die Araber für eine Staatsgründung noch nicht reif.

Ihre Mandatsgebiete teilten die kolonialistischen Sieger nach eigenem Gutdünken auf. Einen einzigen Staat, der das Mandatsgebiet sowohl der Engländer als auch der Franzosen umfasst hätte, kam für die nach der Maxime divide et impera handelnden Engländer und Franzosen selbstverständlich nicht in Frage. Viel besser war aus ihrer Sicht die Errichtung von mehreren Staaten. Diese würden, so das Kalkül, ewig miteinander streiten, zu einer gemeinsamen Aktion kaum fähig und immer auf die Mandatsmächte als Schiedsrichter angewiesen sein. Deshalb teilten die Franzosen ihr Mandatsgebiet, auf dem es heute zwei Staaten gibt, nämlich Syrien und den Libanon, sogar in fünf Teile auf.

Ähnlich verfuhren auch die Engländer, die ihr Mandatsgebiet drittelten. So entstand der heutige Irak; Palästina aber wurde geteilt und zwar in Transjordanien, das heutige Jordanien, und Cisjordanien, also das Land westlich des Jordans, welches das Gebiet des heutigen Israel samt der von Israel besetzten Westbank umfasste.

Palästina war dünn besiedelt. In Cisjordanien standen 1920 nach Schätzungen der Engländer etwa 600.000 Araber 66.000 Juden gegenüber. Wie viele Menschen um diese Zeit in Transjordanien lebten, konnte ich nicht herausfinden. Im Jahr 1950 waren es noch weniger als eine halbe Million. Heute haben sich diese Zahlen mehr als verzehnfacht.

Vordringliche Aufgabe der Engländer war es, lokale Autoritäten zu finden, die die Teile ihres Mandatsgebietes verwalten und als englische Marionetten regieren sollten. Was Jordanien betrifft, so erinnerten sich die Engländer des Großscherifs von Mekka und an die Versprechungen, die man ihm während des Krieges gemacht hatte, und setzten, als Trostpflaster für das nicht zustande gekommene Großarabien gleichsam, seinen Sohn Abdallah, Iraks Kurzzeitkönig, als Emir ein. Als 1946 Jordanien die volle Unabhängigkeit erlangte, ließ sich Abdallah zum König krönen und begründete eine Dynastie, die bis zum heutigen Tag auf dem jordanischen Thron sitzt.

Im Fall von Jordanien war das englische nation building, wie man das heute nennen würde, noch einigermaßen erfolgreich, im Fall des künftigen Iraks war es geradezu katastrophal. Was diesen betrifft, so wurden drei ehemalige osmanische Provinzen zu einem politischen Gebilde „verschmolzen“, wie es in der Wikipedia euphemistisch heißt, und zwar die mehrheitlich von Kurden bewohnte Provinz Mossul im Norden, die sunnitische Provinz Bagdad in der Mitte und die schiitische Provinz Basra im Süden. Treffender wäre freilich die Bezeichnung, die drei heterogenen Provinzen wären von den Engländern zusammengeklebt worden, und das mit Spucke und mit Kaugummi, so brüchig erwies sich das entstandene politische Gebilde. Schon 1920 kam es im Irak zu einem Aufstand, der von den Engländern zwar blutig niedergeschlagen wurde, der aber so heftig ausfiel, dass die Engländer ihren kolonialistischen Würgegriff lockern und dem Land eine größere Unabhängigkeit gewähren mussten. In ihrer Bedrängnis erinnerten sie sich an Faisal, den von den Franzosen verjagten Kurzzeitkönig von Großsyrien, der wie gesagt im englischen Exil lebte. Auf Vorschlag Winston Churchills, dem damaligen englischen Kolonialminister, machte man ihn im Jahr 1921 zum König des hybriden Gebildes Irak. Aufgrund dieser Lockerungen und aufgrund des Umstandes, mit Faisal einen direkten Abkömmling des Propheten als König zu haben, erlangte der Irak bald eine gewisse Autonomie, sodass er bereits 1930 in den Völkerbund aufgenommen wurde. Doch ist seine Leidensgeschichte auch heute, ein Jahrhundert später, noch nicht zu Ende.

Auch die Leidensgeschichte des kurdischen Volkes dauert noch an. Mit diesem Teil aus der osmanischen Kriegsbeute sollte wohl der Weltkriegsverbündete der Engländer und Franzosen, das russische Zarenreich, bedacht werden. Doch dieses war in der russischen Revolution untergegangen, das bolschewistische Gebilde aber, zu dem es sich wandelte, war der neue Feind der Franzosen und Engländer. Doch da diese nicht wussten, was sie mit der Provinz Mossul machen sollten, wurde diese zunächst zur französischen Einflusszone erklärt, später ― als man sich über die Aufteilung der entdeckten Erdölvorkommnisse geeinigt hatte ― zur englischen. Schließlich wurde die Provinz durch einen Völkerbundbeschluss zum englischen Mandatsgebiet erklärt und dem Irak angeklebt. Ein souveränes Kurdistan wäre ja ein reiner Binnenstaat gewesen und als solcher den Engländern ein Gräuel, da er immun gewesen wäre gegen die klassische englische Kanonenbootpolitik. Als Teil des Iraks aber blieb den Engländern ein Einfluss, den sie sonst nicht gehabt hätten.

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Im Irak erzeugte das nation building der Engländer ein Desaster, das bis heute andauert und wohl noch auf unabsehbare Zeit andauern wird. Nicht viel anders war es in Palästina. Wie in Jordanien und im Irak begaben sich die Engländer zunächst auf die Suche nach einer lokalen Autorität, die das Land unter ihrer Oberhoheit regieren sollte, und glaubten, diese in der Person von Mohamed Amin al-Husseini gefunden zu haben. Vom britischen Hochkommissar für das Völkerbundmandat Palästina, dem Juden Sir Samuel Herbert, wurde dieser zum Großmufti von Jerusalem ernannt, was einer gewissen Pikanterie nicht entbehrt, denn früher wäre die Ernennung eines Muftis ― ein solcher war unter den Osmanen eine Art oberster Richter eines Verwaltungsbezirkes ― die Obliegenheit des Kalifen, also des Sultans in Istanbul gewesen. Der Titel, mit dem Husseini bedacht wurde, sollte zum Ausdruck bringen, dass sich dessen Autorität über ganz Cisjordanien erstrecken sollte, und zwar von Jerusalem als Hauptstadt aus.

Die Ernennung Husseinis war ein Missgriff, denn dieser war ein kompromissloser Gegner des Zionismus, der die jüdische Einwanderung mit Misstrauen, ja mit Feindschaft beobachtete. Er wollte nur solche Juden in Palästina dulden, die noch unter osmanischer Herrschaft, also bis 1917, ins Land gekommen waren. Alle anderen Einwanderer sollten wieder gehen, neue erst gar nicht kommen. Schon während der Unruhen des Jahres 1920 spielte er eine führende Rolle, wofür er von den Engländern zu zehn Jahren Gefängnis verurteilt wurde. Schon bald wurde er vom englischen Hochkommissar begnadigt und trotz seiner unzureichenden religiösen Ausbildung zum Großmufti von Jerusalem gemacht.

Die Juden verhielten sich in den ersten Jahren nach dem Weltkrieg defensiv, wobei sie zwei Hauptziele verfolgten: erstens die Zahl der jüdischen Einwanderer zu steigern, zweitens aber still und heimlich die Strukturen vorzubereiten, welche ihre ins Auge gefasste „Heimstätte“, wie es in der Balfour-Deklaration heißt, tragen sollten. Deren erste und wichtigste war wohl die Hagana.

Es ist schwer zu sagen, ob diese „Heimstätte“ von allem Anfang an und von allen schon als Staat gedacht war, ob mit diesem euphemistischen und ach so gemütlichen Ausdruck womöglich das eigentliche Ziel des Zionismus verschleiert hätte werden sollen: der Judenstaat des zionistischen Theoretikers Theodor Herzl. Dieser hatte Palästina zwar bereist, hatte in Palästina sogar die Hand des dort auf Besuch weilenden deutschen Kaisers Wilhelm II gedrückt; doch konnte er, was seinen „Judenstaat“ betrifft, diesem keine Zusage abringen, denn Palästina war damals noch Teil des mit Wilhelm verbündeten osmanischen Reiches, daher eine innere Angelegenheit desselben. Allzu genau scheint sich Herzl in Palästina nicht umgesehen zu haben, denn es ist schwer vorstellbar, wie es in diesem Fall den berühmten Slogan „Ein Land ohne Volk für ein Volk ohne Land“ hätte geben können. Aber was weiß man? Die Protagonisten des Projekts hatten zur Wahrheit ein taktisches Verhältnis; sie gaben ihr die Ehre nur, solange sie ihnen und ihren Zwecken nützlich war.

Jedenfalls war die Besiedlung Palästinas durch jüdische Einwanderer mit einigen Romantizismen begleitet. So verkündete David Ben Gurion in einer historischen Abhandlung, die autochthonen Araber Palästinas wären die islamisierten Nachkommen jener Juden, die im Land geblieben wären, nachdem die Römer im Jahr 70 nach Christus beziehungsweise rund 60 Jahre später den jüdischen Staat zerschlagen hätten; sie wären also Verwandte der ins Land strömenden Juden und würden diese daher freundlich empfangen. Als Jude hätte er wissen müssen, wie schlecht sich Verwandte vertragen, denn die Geschichte beginnt mit einem Brudermord.

Ben Gurion wiederholte nur, was, wie schon erwähnt, der andere Gründervater Israels, sein erster Staatspräsident Weizmann, 1919 in seinem Pariser Abkommen mit dem Haschimitenprinzen Faisal zum Ausdruck gebracht hatte. Es ist allerdings schwer vorstellbar, dass sich der mit allen Wassern gewaschene Ben Gurion über die Reaktion der palästinensischen Araber auf die verstärkte jüdische Zuwanderung irgendwelche Illusionen machte. Seine Annäherung an die historische Wahrheit hatte daher eher den Zweck, die Araber freundlicher zu stimmen oder zumindest ihre Aversion zu dämpfen. Aber auch die Bedenken einwanderungswilliger Juden waren zu zerstreuen, denn diese werden sich gewiss Sorgen gemacht haben, wie sie im fremden fernen Land aufgenommen werden würden.

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An die Gründung eines jüdischen Staates war vorerst noch nicht zu denken; zu klein war noch die Zahl der Juden, die ins Land gekommen waren. Zwar wollte man einen Judenstaat, aber nur unter der Bedingung, dass die Mehrheit seiner Bevölkerung jüdisch wäre. Von Arabern majorisiert zu werden: Das wollte man verständlicherweise auf keinen Fall. Zwar gab es immer wieder Versuche der zionistischen Führung um David Ben Gurion, mit den palästinensischen Arabern ins Einvernehmen zu kommen, doch alle Gespräche scheiterten, ja zerschellten immer wieder an zwei Fragen: Erstens, wie viele Juden noch ins Land kommen sollten, zweitens aber an der Frage des jüdischen Landerwerbs, welchen die Araber genehmigungspflichtig machen wollten.

Was die erste Frage betrifft, so fürchteten auch die besonnensten unter den arabischen Führern, von den Juden immer stärker marginalisiert zu werden, sollte die Immigration in dem Tempo weitergehen. Die Juden waren den Arabern zivilisatorisch überlegen, daran konnte nicht gezweifelt werden. Aufgrund ihrer internationalen Kontakte konnten sie Kapital aufnehmen und die für die Modernisierung des Landes notwendigen Investitionen finanzieren. Vor allem wäre davon die Landwirtschaft betroffen gewesen. Um die rasch wachsende Bevölkerung des Landes zu ernähren, wären Strukturreformen zwingend notwendig geworden. Die kleinbäuerliche Struktur der arabischen Bauern hätte mehr und mehr zugunsten von Großbetrieben weichen müssen, und man würde genötigt sein, moderne Produktionsmethoden einzuführen. Welch andere Zukunftsperspektive bliebe da den von ihrer Scholle verdrängten Arabern als die der Rolle von billigen Lohnarbeitern auf den Gütern und in den Fabriken der jüdischen Kapitalisten? Der schlimmste Alptraum der arabischen Führer aber war, dass es in der großen weiten Welt weit mehr als zehn Millionen Juden gab, die alle von den Zionisten stark umworben wurden, die sich daher von Palästina das Blaue seines Himmels und seines Meeres erhofften und erträumten. Nicht auszudenken, wenn alle kommen sollten! Jedenfalls würde es ohne eine wirksame Beschränkung der jüdischen Immigration bald ein großes Gedränge im Land geben, in dem die Araber der schwächere Teil wären.

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Den Zionisten hingegen ging alles nicht schnell genug. Als es 1948 zur Staatsgründung kam, lag die Zahl der Juden noch weit unter einer Million. Zwar nützten die Zionisten die Zeit, von den Arabern dabei misstrauisch beobachtet, für ihre Zwecke. Die Stadt Tel Aviv wurde ausgebaut, die hebräische Universität in Jerusalem gegründet, Weizmann wurde ihr erster Präsident. Mit der Gründung der Jewish Agency im Jahr 1929 wurde der Keim für die späteren staatlichen Strukturen gelegt, Ben Gurion wurde einer ihrer ersten Vorsitzenden. Erwähnt werden muss auch noch die Einführung einer neuen Staatssprache, und zwar des Iwrit, einer modernisierten Wiederbelebung des als Verkehrssprache ausgestorbenen Hebräischen. Da Juden aus vieler Herren Länder nach Palästina strömten, wäre es ohne eine gemeinsame Sprache bald zu einer Babylonischen Sprachverwirrung gekommen.

Die Jewish Agency gewann schnell an politischem Gewicht, denn sie wurde bald nach ihrer Gründung die Vertretung der Juden Palästinas im Völkerbund; darüber hinaus diente sie der englischen Mandatsverwaltung als Ansprechpartner. Ihre Hauptaufgabe aber war, die innerjüdischen Angelegenheiten in Palästina zu regeln, vor allem was die jüdische Immigration betraf. Doch ging, wie gesagt, die Einwanderung vielen Zionisten viel zu schleppend vor sich, den Arabern hingegen viel zu schnell.

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Das änderte sich, als 1933 in Deutschland die Nazis an die Macht gekommen waren. Deren antisemitische Politik wurde von vielen Zionisten begrüßt, weil man hoffte, sie würde den deutschen Juden Beine machen und sie zum Aufbruch nach Palästina bewegen. Von den deutschen Juden erhofften sich die Zionisten einiges, denn sie waren in ihren Augen kulturell und zivilisatorisch höherstehend als die osteuropäischen Juden, die bis dato die Einwanderung dominiert hatten. Was die Zionisten erhofften, trat ein, denn im Zeitraum von 1931 bis 1939 stieg die Zahl der Juden von 175.000 auf 460.000. Mit ihr stieg auch der Zorn der Araber.

1937 besuchte Palästina ein finsterer Mann, der später so berüchtigt gewordene und im Jahr 1962 in Israel hingerichtete SS-Obersturmbannführer Adolf Eichmann. Von seinem Vorgesetzten Reinhart Heydrich war er beauftragt worden, die Lage vor Ort zu erkunden. Mit falschen Papieren ausgestattet, schiffte er sich nach Haifa ein und ging dort an Land. Doch sein Aufenthalt war kurz, denn schon am nächsten Tage musste er, von den Engländern dazu genötigt, unverrichteter Dinge wieder abreisen. Er fuhr weiter nach Kairo und besprach sich dort mit einem hochrangigen Führer der Hagana, der damaligen jüdischen Miliz.

Die Haltung der Nazis zum zionistischen Projekt war zwiespältig. Einerseits war man froh, Juden auf diese Weise loszuwerden; doch jenen, die man für seine geschworenen Feinde hielt, dabei zu helfen, sich in Form eines eigenen Staates ein Machtzentrum zuzulegen und sich dadurch die Sympathie der Araber zu verscherzen: Das ging ihnen zu weit. Immerhin wurde für ausreisewillige deutsche Juden eine Möglichkeit geschaffen, wenigstens einen Teil ihres Geldes nach Palästina zu transferieren. Die Juden mussten es an den deutschen Staat abliefern, welcher mit diesem Geld diejenigen deutschen Exporteure bezahlte, welche Waren nach Palästina lieferten. Der palästinensische Importeur aber, statt den deutschen Exporteur zu bezahlen, zahlte den für die Importe vereinbarten Betrag an die Juden, die aus Deutschland eingewandert waren. Diese Regelung ist unter der Bezeichnung Ha’avara-Abkommen bekannt.

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Im April 1936 entluden sich in Palästina die Spannungen. Anlass dafür war die Ermordung von zwei Juden. Diese Gewalttat wurde mit Gegengewalt beantwortet. Die Ausschreitungen griffen auf Jaffa über, von arabischer Seite wurde der Generalstreik ausgerufen, der Mufti von Jerusalem setzte sich an die Spitze des Aufstandes. Die Engländer, die 20.000 Soldaten in Palästina stationiert hatten, schlugen den Aufstand nieder, wobei sie große Teile der Altstadt von Jaffa zerstörten, denn deren enge und verwinkelte Gassen dienten den Aufständischen als Rückzugsgebiet und als Deckung. Einem heutigen Beobachter kommt das alles allzu bekannt vor.

Der Blutzoll, den diese erste Phase des Aufstandes forderte, war hoch, denn als er ein halbes Jahr später beendet und der Generalstreik eingestellt wurde, zählte man über 300 Tote. Die Engländer, erkennend, was sie sich mit dem Mandat in Palästina aufgehalst hatten, nämlich einen unlösbar scheinenden Konflikt, suchten nach einem Ausweg aus der Misere und setzten eine nach ihrem Vorsitzenden Peel benannte Kommission ein. Da an ein friedliches Zusammenleben der verfeindeten Ethnien kaum mehr zu denken war, hatte diese Kommission die Aufgabe, einen Teilungsplan für Palästina zu erarbeiten. Gemäß diesem Plan sollte Palästina in zwei Staaten aufgeteilt werden. Die Juden sollten das mehrheitlich jüdisch besiedelte Galiläa im Norden sowie einen schmalen Küstenstreifen, der bis rund 50 Kilometer unterhalb von Tel Aviv reichen sollte, erhalten. Das restliche Gebiet, also im Wesentlichen das Westjordanland und den ganzen südlichen Teil des heutigen Israel bis hinunter nach Eilat, sollten die Araber erhalten. Die Engländer wollten sich mit dem Gebiet um Jerusalem und einem schmalen Korridor von Jerusalem zur Mittelmeerküste begnügen. Um die Streithähne nachhaltig zu trennen und die beiden Staaten ethnisch möglichst homogen zu machen, sollte es darüber hinaus Umsiedlungen geben. Im Raum stand auch noch der Anschluss des intendierten arabischen Staates an Transjordanien.

Die Aufnahme dieses aus heutiger Sicht, zumindest aus der meinigen, grundvernünftigen Teilungsplanes war gemischt. Die religiösen Juden wollten sich nicht damit abfinden, dass ihre historischen Gebiete in Judäa und in Samaria arabisch bleiben sollen. Doch ihre maßgeblichen Führer waren bereit, den Plan zu akzeptieren. Chaim Weizmann hat das zugespitzt so ausgedrückt: „Die Juden wären dumm, nicht zu akzeptieren, selbst wenn der jüdische Staat die Größe eines Tischtuches hätte.“ Vor allem aber war mit dem Peel-Bericht die Katze aus dem Sack, und das S-Wort, also das Wort Staat, in einem offiziellen englischen Dokument ausgesprochen.

Auch die Reaktion der Araber auf den englischen Teilungsplan war gemischt. Während viele Gemäßigte bereit waren, ihm zuzustimmen, war es vor allem der Großmufti, der ihn vehement ablehnte; und nicht nur das, er lancierte auch eine Einschüchterungs- und Mordkampagne gegen jene, die für die Umsetzung des Planes waren. Der Großmufti war, wie spätere Palästinenserführer auch, ein intransigenter Maximalist, der keine nach 1917 eingewanderten Juden in Palästina dulden wollte. Maximalisten aber waren insgeheim auch viele jüdische Führer. Auch wenn sie dem Teilungsplan zustimmten, so bedeutete es nicht, dass sie ihr großes Ziel, das ganze Land Israel, aufgegeben hätten. Für sie war der kleine Staat, der ihnen von der Peel-Kommission zugestanden wurde, nur eine Etappe auf dem Weg dorthin, freilich eine äußerst wichtige.

Im Sommer 1937 flammte der Aufstand der Araber erneut auf, und zwar so heftig, dass die Engländer glaubten, drakonische Maßnahmen ergreifen zu müssen, um ihn zu beenden. Illegaler Waffenbesitz wurde bei Todesstrafe verboten, an die hundert Araber wurden gehängt, weil sie dagegen verstoßen hatten. Häuser oder ganze Dörfer, wo man Aufständische entdecken konnte, wurden als Kollektivstrafe dem Erdboden gleichgemacht. Rund dreitausend Juden wurden bewaffnet und als Hilfspolizisten in englischen Dienst gestellt. 300 führende Palästinenser wurden verhaftet, doch der Großmufti konnte sich der Verhaftung entziehen, indem er aus dem Machtbereich der Engländer in den Libanon floh. Von dort setzte er seine Annäherung an Hitlerdeutschland fort, das ihm, seiner antisemitischen Politik wegen, als natürlicher Verbündeter aller Araber erschien. Die Engländer verlangten zwar seine Auslieferung, doch die Franzosen lehnten ab. Die Entente cordiale war wohl nicht mehr so cordiale. Schließlich wurde es dem Großmufti auch im Libanon zu heiß, er floh in den Irak, wo er von der antienglisch eingestellten Bevölkerung begeistert begrüßt wurde. Nach einigen weiteren Stationen kam er im November 1941 schließlich in Berlin an, wo er von Hitler in Ehren empfangen wurde. Er wurde in die SS aufgenommen und durfte sich bis Kriegsende als Nazipropagandist betätigen, indem er sich über einen deutschen UKW-Sender an die arabische Welt wandte, allerdings mit bescheidenem Erfolg. Nach dem Krieg wurde er als Kriegsverbrecher verhaftet, aber nicht angeklagt. Er konnte seinen Häschern schon bald entkommen, fand in Ägypten Asyl und wurde zum Mentor für Yasser Arafat, mit dem er weitläufig verwandt war.

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Die arabische Annäherung an Deutschland, als dessen Symbolfigur der Großmufti anzusehen ist, blieb den Engländern selbstverständlich nicht verborgen. Um die weitere Entwicklung zu verstehen, ist es notwendig, sich kurz die politische Lage in Europa zu vergegenwärtigen. Im Herbst 1938 kam es zu zwei fatalen Ereignissen, deren erstes das Münchner Abkommen war. Unter der Federführung des englischen Premiers Chamberlain wurde den Deutschen, auf einem Silbertablett gleichsam, das Sudetenland zugesprochen, ein Gebiet, das seit dem Vertrag von Versailles zur Tschechoslowakei gehörte. Das zweite Ereignis war die Reichspo-gromnacht im November 1938. Nach dieser, besonders aber nach dem im Frühjahr 1939 erfolgten Einmarsch der Deutschen und ihrer Verbündeten in die amputierte Tschechoslowakei, einem eklatanten Bruch des Münchener Abkommens, musste es den Engländern klar geworden sein, dass ihre Appeasement-Politik gescheitert war und dass sie sich auf einen Krieg mit Deutschland vorzubereiten hätten. Ein unbefriedetes Palästina, das über 20.000 englische Berufssoldaten band, und die Feindschaft der Araber konnten sie sich vor diesem Hintergrund nicht mehr leisten. Eine Änderung ihrer Palästinapolitik, die die verprellten Araber besänftigen sollte, war daher mehr als angebracht.

Das Dokument, das diese Kursänderung wiedergibt, wird als McDonald-Weißbuch bezeichnet. Es wurde im Mai 1939 im Unterhaus debattiert und verabschiedet. Darin stellte die englische Regierung unmissverständlich klar, dass es nicht ihr Ziel sei, einen jüdischen Staat in Palästina zu errichten, sondern dass es innerhalb der nächsten zehn Jahre einen gemeinsamen Staat der Araber und Juden geben solle. Die jüdische Einwanderung wurde stark eingeschränkt. In den kommenden fünf Jahren wollten die Engländer legal nur noch insgesamt 75.000 Juden nach Palästina einwandern lassen, was den jüdischen Anteil an der Gesamtbevölkerung des Landes auf ein Drittel erhöht hätte. In dem von den Engländern intendierten Staat hätten demnach die Araber eine satte Bevölkerungsmehrheit gehabt. Nach dem Ende dieser Übergangsfrist sollte es überhaupt keine Neueinwanderung von Juden mehr geben, es sei denn, die Araber wären damit einverstanden. Die illegale Einwanderung wollte man völlig unterbinden, weiterer jüdischer Bodenerwerb sollte nur mehr mit Billigung der Mandatsmacht möglich sein. Endlich wurde Tacheles geredet und nicht mehr blumig-unverbindlich wie in der Balfour-Deklaration.

Das McDonald-Weißbuch blieb Grundlage der englischen Politik, bis die Engländer im Jahr 1948, also neun Jahre später, aus Palästina abzogen. Selbstverständlich brachte es die Juden Palästinas auf die Palme(n), die darin einen eklatanten Bruch der Balfour-Deklaration erblickten. Doch diese war weich, ja gummiweich formuliert ― wie hätte sie da brechen können?


5. Der Zweite Weltkrieg

Das McDonald-Weißbuch wurde also am Vorabend des Zweiten Weltkrieges beschlossen und publik gemacht. Nur drei Monate später begann, nachdem er sich mit Stalin verständigt hatte, Hitler den Krieg gegen Polen. England und Frankreich beantworteten diesen Überfall, indem sie Deutschland den Krieg erklärten, freilich ohne in der Lage zu sein, dieser Kriegserklärung auch ernstzunehmende kriegerische Taten folgen zu lassen und den überfallenen Polen zu Hilfe zu eilen ― zu sehr hatte man in der Zwischenkriegszeit die Rüstung vernachlässigt. So blieb als unmittelbare Folge dieser Kriegserklärung nur, dass sich der zunächst noch lokale Konflikt zwischen Deutschland und Polen zu einem europäischen, ja bald zum Weltkrieg ausweitete.

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Die Geschichte Palästinas während dieses Krieges ist eng verknüpft mit der Rolle, welche die Hagana in ihm spielen sollte ― ein kurzer Rückblick auf sie ist daher geboten.

Die Wurzeln dieser jüdischen Organisation reichen zurück in die Zeit der ersten arabischen Aufstände zu Anfang der Zwanzigerjahre, als es immer wieder zu Übergriffen auf Juden kam und das eine oder andere kleinere, aber auch größere Massaker an ihnen verübt wurde. Dass die Juden das nicht hinnahmen und zur Selbsthilfe schritten, ist sehr verständlich. Aus dem Gefühl des Bedrohtseins heraus entstanden daher örtliche Verteidigungsgruppen, die von der jüdischen Gewerkschaft zusammengehalten und geführt wurden. Mit jedem neuen Übergriff erhielten diese zunächst noch ziemlich losen Gruppen neuen Zulauf, verfestigten ihre Strukturen, verbesserten ihre Bewaffnung und wurden mit der Zeit zu einem ernstzunehmenden paramilitärischen Verband, insbesondere auch deshalb, weil die Engländer zur Niederschlagung des arabischen Aufstands des Jahres 1937 einige ihrer Einheiten als Hilfspolizei einsetzten. 1938 bestand die Hagana schon aus über 20.000 Freiwilligen; darunter waren auch viele Frauen. Die Mitgliedschaft war sozusagen nebenberuflich. Man ging nachwievor seiner üblichen Beschäftigung nach; und man war in der Hagana. Damals wurde den Israelis das Gen, ein Volk in Waffen zu sein, eingepflanzt. Doch wer weiß? Womöglich war es immer schon vorhanden und wurde damals nur angeknipst. Es je wieder auszuknipsen, das hat man freilich versäumt . . .

Die Hagana, auf Deutsch „Verteidigung“, ist ein aus der Not geborenes Produkt des jüdischen Pioniergeistes, dem man die Anerkennung nicht versagen kann. Freilich sind auch Schattenseiten zu vermerken. Als solche sind jene Teile der Hagana anzusehen, die mit ihrer zunächst defensiven Ausrichtung nicht einverstanden waren, die daher auch zum Terror als Mittel des politischen Kampfes griffen und die sich von ihr abspalteten. Die bekannteste und größte dieser Abspaltungen ist die unter dem Kommando des späteren Ministerpräsidenten Menachem Begin stehende Irgun. Zu nennen wäre auch die Terrororganisation Lechi.

Nach dem McDonalds-Weißbuch sollte die Hagana eigentlich aufgelöst werden. Doch nach der katastrophalen und vor allem unerwartet schnellen Niederlage Polens fuhr den Engländern der Schreck in die Glieder, denn sie mussten erkennen, wie schlecht sie nicht nur in Europa, sondern auch in Palästina auf den Krieg vorbereitet waren, zumal sie ja nicht ganz ausschließen konnten, dass auch ihr ehemaliger Feind, die Türkei, in den Krieg eintreten werde, in der Absicht, seine 1918 verlorenen Provinzen wenigstens teilweise zurückzuerobern. Vor allem aber sorgten sich die Engländer um den für sie lebenswichtigen Suezkanal, der schon bald von Italien, dem Verbündeten Deutschlands, ins Visier genommen werden sollte. In ihrer Not änderten die Engländer erneut ihren Kurs und begannen, um Unterstützung der Hagana zu werben, welche sie gemäß dem Weißbuch eigentlich auflösen wollten.

Die Juden waren empört über die Chuzpe der Engländer, als welche sie das Weißbuch ansahen. In New York kündigte der zionistische Weltkongress das Bündnis mit Großbritannien auf. Doch es gab unter den Juden auch Neuankömmlinge aus Europa, denen nach Ausbruch des Krieges die Flucht nach Palästina gelungen war, bevor sich überall in Europa die Tore schlossen; die sich daher von den Engländern anwerben ließen, weil diese jenen Mann, vor dem sie geflüchtet waren, bekämpften: den deutschen Führer Adolf Hitler. Und es gab den schlauen Ben Gurion, der sich schon bei Kriegsbeginn klar für das kleinere Übel „England“ entschieden hatte, indem er die eindrucksvolle Formel ausgab: „Wir werden Hitler bekämpfen, als ob es kein Weißbuch gäbe, und wir werden das Weißbuch bekämpfen, als ob es keinen Krieg gäbe.“

Den italienischen Vorstoß von Libyen aus in Richtung Ägypten und dem Suezkanal konnten die Engländer noch leicht abwehren. Kritisch wurde die Lage für sie erst, als deutsche Verstärkungen unter dem Kommando des legendären Generals Rommel in Nordafrika eintrafen. Nach vielen taktischen Siegen, als er schon an die Tore Ägyptens klopfte, wurde Rommel 1942 schließlich besiegt. Die Gefahr in Nordafrika und damit für den Suezkanal war somit gebannt, was dazu führte, dass die Engländer, situationselastisch wie immer, ihre bis dahin uneingeschränkte Unterstützung der Hagana beendeten. Da man die jüdischen Soldaten nicht mehr brauchte, ihre Präsenz in Palästina eher fürchtete, wurden ihre Einheiten nach einigem Hin- und Her schließlich nach Zypern verlegt, wo sie zur Untätigkeit verurteilt waren. Schließlich wurde die Jüdische Brigade gegründet und in die britische Armee eingegliedert. Sie war 5000 Mann stark und wurde ab September 1944 in Italien eingesetzt. Als Teil der britischen Armee gelangte sie 1945 in das besiegte Deutschland, wo sie unter anderem versuchte, jüdischen Überlebenden, die nach Palästina wollten, behilflich zu sein. Nach und nach wurden ihre Einheiten von den Engländern aufgelöst.

Das Verhältnis der Hagana zu den perfiden Engländern verschlechterte sich nach Kriegsende rapid, als, nach Ben Gurions Worten, das verbindende Element, der Kampf gegen Hitler, weggefallen war, das trennende, die Bekämpfung des Weißbuches, aber geblieben. Die Hagana ging in den Untergrund und begann mit Terroranschlägen, besonders auf Einrichtungen der Engländer. Deren bekanntester war der Bombenanschlag des Irgun, einer radikalen Abspaltung der Hagana, auf das King David Hotel in Jerusalem, in dem zahlreiche englische Behörden untergebracht waren. Verantwortlich für diesen Anschlag, bei dem 91 Menschen, nach anderen Quellen fast doppelt so viele ums Leben kamen, war der spätere israelische Ministerpräsident und Friedensnobelpreisträger Menachem Begin. Als Rache für die Hinrichtung von verurteilten Juden durch die englische Mandatsmacht ließ Begin auch zwei gefangene englische Soldaten hängen, eine abscheuliche Tat zwar, aber auch Ausdruck der Abscheus, die inzwischen viele Juden den Engländern gegenüber hegten.


6. Von 1945 bis zur Staatsgründung

Der Aufstand der Juden nach Kriegsende stellte die Aufstände der Araber vor Kriegsbeginn weit in den Schatten, was schon aus der Tatsache hervorgeht, dass die Engländer, um Herr der Lage zu bleiben, 100.000 Mann in Palästina stehen hatten, während es vor dem Krieg nur 20.000 Mann gewesen waren. Angesichts dieser höchst unerfreulichen Entwicklung begann man sich in London zu fragen, ob die strategische Bedeutung Palästinas für das Empire noch die enormen Kosten rechtfertige, die die englische Präsenz im Land verursachte. Das durch zwei Weltkriege ausgepowerte Großbritannien konnte sich sein Nahostengagement also nicht mehr leisten und erwog, das Chaos, das es dort mit seiner Schaukelpolitik verursacht hatte, seinem Schicksal zu überlassen; das umso leichter, als inzwischen ein anderer Akteur auf den Plan getreten war, der sich erbötig machte, die Rolle des Protektors der Juden zu übernehmen: die USA.

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Ein wichtiger Grund dafür, dass sich die Dinge nach dem Krieg derart radikalisierten, lag im verstärkten Bemühen der Hagana, die rigide Einwanderungspolitik der Engländer zu unterlaufen. Das ging so weit, dass die Engländer ganze Schiffe, die mit Überlebenden des Holocaust in Palästina anlegten, abwiesen, sie zurück nach Europa dirigierten oder ihre Passagiere auf Zypern internierten. Als Symbol für diese Politik kann das später so genannte Schiff Exodus gelten. Der Name sollte wohl an den biblischen Exodus, den Auszug der Juden aus Ägypten, erinnern.

Die President Warfield, wie das Schiff hieß, bevor es auf seinen symbolträchtigen Namen umgetauft wurde, war ein auf einem Schiffsfriedhof liegender und auf seine Verschrottung wartender alter amerikanischer Flussdampfer, den die Hagana erworben hatte, um mit ihm Flüchtlinge nach Palästina zu befördern. Dass das Schiff die Überfahrt über den Atlantik heil überstanden hat, grenzt an ein Wunder. Aus Südfrankreich kommend, legte die Exodus im Sommer 1947 mit fast 5000 Passagieren an Bord in Haifa an, nachdem sie zuvor von englischen Kriegsschiffen entdeckt, aufgebracht und geentert worden war, wobei es zu Kämpfen kam, die viele Verletzte und womöglich einige Tote forderten. Da die Hagana dafür sorgte, dass die Ereignisse, die sich an Bord abspielten, per Funk ans Land übertragen und dort von vielen Menschen gespannt mitverfolgt wurden, stand eine große Menschenmenge am Kai von Haifa und bereitete dem Schiff einen großen Empfang, sodass sich die Ereignisse gleichsam vor den Augen der Weltöffentlichkeit abspielten ― ein veritables PR-Desaster für die Engländer.

In Haifa wurden die Flüchtlinge nicht an Land gelassen; vielmehr mussten sie, von den Engländern dazu genötigt, auf drei andere Schiffe umsteigen. Mit diesen wurden sie, da die Flüchtlingslager in Zypern voll waren, zunächst dorthin zurückgebracht, von wo sie gekommen waren: nach Südfrankreich ― die Rückreise mit dem alten Seelenverkäufer Exodus wurde, angesichts des Interesses der Weltöffentlichkeit, wohl als zu gefährlich und als nicht zu verantworten erachtet. Da sich aber auch Frankreich weigerte, die Flüchtlinge aufzunehmen, mussten die Schiffe wieder ablegen und um Gibraltar herum nach Hamburg fahren, wo die internationale Presse bereits auf sie wartete. Diese sorgte dafür, dass die unbarmherzige Behandlung der Überlebenden des Holocaust durch die Engländer weltweit publik gemacht wurde. In Deutschland mussten die zurückgebrachten Juden einige Wochen in einem englischen Lager verbringen, bis Ende September 1947 die englische Regierung ihren Beschluss kundtat, aus Palästina abziehen zu wollen, und der Weg dorthin frei wurde.

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Als sich die dreißigjährige Mandatszeit in Palästina ihrem Ende zuneigte, überschlugen sich die Ereignisse. Schon zu Beginn des Jahres 1947 hatte die englische Regierung in der Erkenntnis, dass sie als nation builder eklatant versagt hatte, beschlossen, den Scherbenhaufen, den sie in Palästina angerichtet hatte, der UNO zu übergeben und 1948 fristgerecht aus Palästina abzuziehen. Damit geriet die UNO in Zugzwang. Sie erarbeitete einen Teilungsplan, den sie am 29. 11. 1947 zur Abstimmung vorlegte. 33 Nationen stimmten dem Plan zu, 13 stimmten dagegen, 10 weitere Staaten enthielten sich der Stimme, unter ihnen die Mandatsmacht England.

Verglichen mit dem Teilungsplan, den die Peel-Kommission vor zehn Jahren vorgelegt hatte, stellte der UN-Plan für die Araber eine Verschlechterung dar. Zwar wurde ihnen in Nordisrael ein Küstenstreifen zugestanden, der von Akkon bis zur libanesischen Grenze reichen sollte; dafür sollte praktisch der ganze Süden, also die Negevwüste bis Eilat, jüdisch werden. Jerusalem sollte unter internationale Verwaltung gestellt werden. Demografisch betrachtet hätte das einen mehrheitlich jüdisch besiedelten Staat ergeben, bei dem etwa 600.000 Juden rund 325.000 Arabern entgegengestanden wären. Im arabischen Teilstaat hätte es rund 800.000 Araber bei nur 10.000 Juden gegeben. Im internationalen Teil um Jerusalem wären beide Ethnien gleich stark gewesen und hätten jeweils etwa 100.000 Menschen gezählt. Verglichen mit der Situation heute, wo allein im Gazastreifen mehr Menschen leb(t)en als damals in ganz Palästina, war das Land also noch recht dünn besiedelt.

Die Araber fühlten sich übervorteilt, denn sie stellten noch immer zwei Drittel der Gesamtbevölkerung. Außerdem machten sie geltend, dass noch immer 47 Prozent des Landes in ihrem Besitz war und nur 6 Prozent in jüdischem. Der Rest, also fast die Hälfte des Landes, war unfruchtbares Niemandsland, wie zum Beispiel die Negev-Wüste im Süden. Die Araber lehnten den Teilungsplan daher ab ― sie hatten gute Gründe dafür.

Anders verhielten sich die Juden, die den Plan mehrheitlich guthießen. Freilich sagten die maßgeblichen Führer unter der Hand, was bis heute als roter Faden durch die Politik Israels anzusehen ist: Nehmen wir, was man uns gibt. Was man uns nicht gibt, werden wir uns schon nehmen, notfalls mit Gewalt. Offene Ablehnung des Planes gab es nur von den terroristischen Abspaltungen der Hagana: von Irgun und von Lechi.

Der UN-Teilungsplan war gut gemeint. Beide Staaten sollten demokratische Verfassungen bekommen, durch eine Zoll- und Währungsunion verbunden sein und gemeinsame Infrastruktureinrichtungen für Wasser, Energie und dergleichen betreiben. Freilich war das reines Wunschdenken, entsprungen aus der missbräuchlichen Verwendung des demokratischen Prinzips und unter Verkennung der Gegebenheiten vor Ort. Zwar hatte eine deutliche Mehrheit der UN-Staaten für den Plan gestimmt, aber seit wann werden, um Bismarck zu zitieren, die großen Menschheitsfragen durch Majoritätsbeschlüsse entschieden und nicht vielmehr durch Blut und Eisen?

Dieses herbe Diktum bedarf der Erläuterung. Ich bezweifle nicht, dass das demokratische Prinzip, bei dem die Mehrheit entscheidet, was geschehen soll, seine Berechtigung hat. Doch gilt es absolut? Wohl nicht. So darf zum Beispiel das demokratische Prinzip dort keine Anwendung finden, wo es um den Schutz von Minderheiten geht. Es geht nicht an, dass ein Wolf, ein Fuchs und ein Hase darüber abstimmen, was es abends zu essen gibt. Eine weitere Einschränkung des demokratischen Prinzips besteht darin, dass über eine Sache nur jene abstimmen sollen, die von dieser Sache auch betroffen sind, nicht aber unbeteiligte Dritte. In einem Haus mit Eigentumswohnungen zum Beispiel ist es legitim, dass die Mehrheit der Hausparteien entscheidet, ob zum Beispiel das Dach des Hauses erneuert werden soll oder nicht. Die Parteien der Nachbarhäuser haben in dieser Sache selbstverständlich kein Stimmrecht, weil sie von ihr ja nicht betroffen sind.

Im Lichte des hier Dargelegten kann man den UNO-Teilungsplan und die Abstimmung darüber nur absurd nennen. So stimmten Länder wie Australien, Nicaragua, Haiti, die Philippinen oder Schweden für den Teilungsplan, obwohl sie von der Sache, wenn überhaupt, nur marginal betroffen waren und die Situation vor Ort nur flüchtig kannten. Länder wie zum Beispiel Jugoslawien, Kuba oder bezeichnenderweise auch die Mandatsmacht England enthielten sich wohlweislich der Stimme, während die muslimisch geprägten Lander, unter ihnen alle arabischen, den Plan ablehnten. Besonders absurd ist es, dass die Stimmen von Bananenrepubliken wie Haiti oder Nicaragua das gleiche Gewicht hatten wie die Stimmen großer wichtiger Länder, wie zum Beispiel die USA, die Sowjetunion oder Ägypten.

Als wichtigster Grund, dass die für die Annahme des Teilungsplanes notwendige Zweidrittelmehrheit überhaupt zustande kam, ist die Arbeit der international vernetzten jüdischen Lobby anzusehen. Dieser gelang es mit dem Hinweis auf das Schicksal, das den europäischen Juden vom besiegten Nazideutschland bereitet worden war, den einen oder anderen Staat zu bewegen, für den Teilungsplan zu stimmen. Die armen Palästinenser hingegen hatten keine Lobby. Wie unfair, David! möchte man ausrufen, und wie absurd.

Vollends absurd aber wird diese Abstimmung, wenn man sich vergegenwärtigt, dass die hauptbetroffenen Parteien gar nicht mitstimmen durften. Da wäre zum Beispiel Jordanien zu nennen, dessen Grenzen durch die künstliche Spaltung Palästinas durch England hervorgegangen sind. Jener Teil des ursprünglichen Palästinas, der sich heute Jordanien nennt, hatte zwar 1946 die volle Souveränität erlangt, in die UNO aufgenommen wurde das Land aber erst 1955; es durfte daher 1947 nicht mitstimmen. Von der Abstimmung ausgeschlossen waren aber vor allem jene, die von der Sache unmittelbar betroffen waren: die Palästinenser und die Juden.

Als 1919 in Europa die Grenzen neu gezogen wurden, kam es da und dort, wo die Bevölkerung mit der neuen Grenzziehung nicht einverstanden war, zu Referenden oder Volksabstimmungen. Als gebürtigem Kärntner ist mir besonders die Kärntner Volksabstimmung von 1920 gegenwärtig, als im gemischtsprachigen Südkärnten die Bevölkerung darüber abstimmen durfte, ob das Gebiet bei Österreich bleiben oder an Jugoslawien angeschlossen werden solle. Gerne hätten 1919 auch die Südtiroler abgestimmt, ob sie bei Tirol und Österreich bleiben oder an Italien angeschlossen werden sollten. Da kein Zweifel darüber bestehen konnte, wie eine solche Abstimmung ausgehen würde, und da andererseits das Gebiet Italien versprochen worden war, wurde eine Abstimmung von den Siegermächten nicht einmal erwogen.

Nicht erwogen wurde auch eine Volksabstimmung darüber, ob es im cisjordanischen Palästina einen oder zwei Staaten geben solle, denn auch darüber konnte es keinen Zweifel geben: Die Araber, die damals etwa zwei Drittel der palästinensischen Bevölkerung stellten, hätten wohl geschlossen für die Einstaatenlösung gestimmt. Dahingestellt sei auch die Frage, wie in einem terrorschwangeren Land ohne demokratische Traditionen und Strukturen eine solche Abstimmung hätte organisiert werden können.

Aus den genannten Gründen kann die Abstimmung über den von der UNO ausgearbeiteten Teilungsplan mit Fug und Recht eine pseudodemokratische Farce genannt werden. Er war das Papier nicht wert, worauf er geschrieben war. Und so war sein einziger Zweck, die Tragödie auszulösen, die unmittelbar auf die Abstimmung folgen sollte. Nun würden die Grenzen, wie von alters her, nicht mit Tinte und Papier, sondern mit Blut und Eisen geschrieben werden.

Schon die beiden Jahre davor wurde das Land von einer regelrechten Terrorwelle heimgesucht, bei der sich besonders die im Untergrund agierenden jüdischen Organisationen hervortaten. So sprengte die Hagana unter anderem zehn Brücken, die Irgun, wie bereits erwähnt, einen Flügel des King David Hotels in Jerusalem. Als das Ergebnis der UNO-Abstimmung bekannt wurde, kam es zu einem guerillaartigen, mit leichten Waffen ausgefochtenen Bürgerkrieg zwischen Arabern und Juden, bei dem die letzteren klar die Oberhand behielten. Sie hatten sich jahrzehntelang auf diese Auseinandersetzung vorbereitet, sie waren daher weitaus besser organisiert als die Araber, sie hatten im Weltkrieg Kampferfahrung gesammelt und sie waren in der Lage, sich im Ausland Waffen zu besorgen. Zwar wurde von der UNO ein Einfuhrembargo für Waffen verhängt, doch die findigen Juden kannten die Schleichwege; sie konnten das Embargo umgehen und besorgten sich Waffen und Munition aus dem Ausland, hauptsächlich aus der Tschechoslowakei. Es kam zur Massenflucht der arabischen Bevölkerung aus den mehrheitlich von den Juden bewohnten Gebieten, also aus dem Teil des Landes, der nach dem Teilungsplan der UNO für die Juden bestimmt war. Vertrieben wurden aber auch Juden, die in dem für die Araber bestimmten Teil Palästinas lebten. Trauriger Höhepunkt dieser durch Gewalt, aber auch List, hervorgerufenen Vertreibungen war das am 9. April 1948 vom Irgun unter seinem Kommandanten Menachem Begin verübten Massakers von Deir Yasin, einem Dorf unweit von Jerusalem im arabischen Teil gelegen, bei dem mindestens hundert Dorfbewohner umgebracht wurden. Dieses Massaker hatte auch symbolische Bedeutung, denn es manifestierte den Anspruch, den radikale Juden auf das den Arabern zugedachte Westjordanland hegten.

Das Massaker von Deir Yasin wurde schnell ruchbar, denn als Begin einige Monate später New York besuchte und um Unterstützung für seine Organisation warb, erschien in der New York Times ein von führenden amerikanischen Juden unterzeichneter Leserbrief ― es unterzeichneten unter anderen Persönlichkeiten wie Hannah Arendt und Albert Einstein ―, in dem die Irgun als faschistische Organisation gebrandmarkt wurde ― ein kapitaler Vorwurf fürwahr. Einstein betätigte sich als Prophet, indem er schrieb: „Sollte uns eine reale und endgültige Katastrophe in Palästina ereilen, so würden in erster Linie die Briten und an zweiter Stelle die aus unseren Reihen gebildeten terroristischen Organisationen dafür verantwortlich sein.“

Heute, da Israel so nahe am Abgrund steht wie nie zuvor in seiner Geschichte, ist seine Mahnung von einer beängstigenden Aktualität. Begin aber verteidigte das Massaker selbst dann noch, als er Ministerpräsident und Friedensnobelpreisträger geworden war. Ohne das Massaker, so seine Argumentation, hätte es nie einen Staat Israel gegeben. Der Verzicht auf Terror als Mittel des Kampfes wäre aus seiner Sicht gleichbedeutend gewesen mit dem Verzicht der Juden auf den eigenen Staat.


7. Die Staatsgründung von 1948 und Israels Kriege mit den arabischen Nachbarn

Am 14. Mai 1948, also einen guten Monat nach den Ereignissen von Deir Yasin, endete das den Engländern vom Völkerbund verliehene Mandat und mit ihm ihre Präsenz in Palästina. Die Juden hatten es eilig, denn sofort trat ihr Nationalrat zusammen und rief noch am selben Tag vor Sonnenuntergang den unabhängigen Staat Israel aus. Die Anerkennung des neuen Gebildes durch die USA folgte nur wenige Minuten später. Zwei Tage später folgte die Anerkennung Israels durch die Sowjetunion. Warum Stalin nicht für die arabische Seite Partei ergriffen hat und es duldete, dass tschechische Waffen nach Israel geliefert wurden, darüber kann ich nur mutmaßen. War es, weil die arabischen Staaten damals noch Monarchien waren oder war die Nähe der israelischen Führung zum Sozialismus auschlaggebend? Jedenfalls wurde die spätere Ministerpräsidentin Golda Meir, damals schon dem inneren Kreis der israelischen Führung angehörig, die erste israelische Botschafterin in der Sowjetunion.

Schon am nächsten Morgen befand sich der neue Staat im Krieg, denn noch in der Nacht hatten seine arabischen Nachbarstaaten Ägypten, Saudi-Arabien, Syrien, Jordanien, der Libanon und der Irak ihm diesen erklärt.

Die unmittelbare Folge war eine große Flüchtlingswelle, deren Ursache bis heute umstritten ist. Während die Palästinenser von der Nakba sprechen und sagen, sie wären vertrieben worden, sagen die Israelis, die arabischen Armeen hätten die Palästinenser zur Flucht aus dem Kampfgebiet aufgefordert. Das ist zumindest plausibel; sie sollten weder zwischen die Fronten geraten noch den Israelis als menschliche Schutzschilde dienen. Jedenfalls flohen die Palästinenser in der Hoffnung, nach dem allgemein erwarteten schnellen Sieg der Araber bald wieder in ihre Dörfer zurückkehren zu können.

Die Israelis, immer geschickt darin, biblische Motive für ihre Propaganda zu nutzen, haben ihren Kampf gegen die arabischen Verbände ― von arabischen Armeen zu sprechen wäre übertrieben und daher irreführend ― zum Kampf Davids gegen Goliath stilisiert. Doch die arabischen „Armeen“ waren klein, schlecht bewaffnet, schlecht munitioniert, schlecht geführt und unerfahren im Kampf. Sie waren von den damaligen arabischen Machthabern bewusst klein gehalten worden, weil diese befürchteten, sie könnten gegen sie putschen, was später, nachdem der Krieg gegen Israel zu Ende war, in vielen arabischen Staaten tatsächlich der Fall war. Der israelische David war zwar noch nicht erwachsen, ein kräftiger ansehnlicher Jüngling war er aber schon; seine arabischen Kontrahenten hingegen könnte man, um im Bild zu bleiben, als halbe Kinder ansehen.

Die Ausnahme bildete Jordanien. Dort herrschte, inzwischen zum König gekrönt, der von den Engländern installierte Sohn des ehemaligen Scherifs von Mekka, Abdallah. Jordanien besaß eine kleine, etwa 9000 Mann starke Beduinenarmee, die Arabische Legion, die von John Bagot Glubb, einem ehemaligen englischen Weltkriegsoffizier, geformt und befehligt wurde.

Glubb, eine Art zweiter Lawrence von Arabien, ist, neben David Ben Gurion, eine der wenigen in die Ereignisse von 1948 involvierten Gestalten, die einem imponieren. Ich möchte ihm daher in Form einiger weniger Zeilen ein kleines Denkmal errichten.

Nach seinem Dienst im Weltkrieg, in dem er schwer verwundet worden war, ging der junge Glubb in den Irak. Dort lebte er unter Beduinen, erlernte ihre Sprache, machte sich mit ihrer uns so wenig bekannten Mentalität vertraut, studierte ihre Kultur und trat für einige Jahre in den Dienst der irakischen Regierung unter König Faisal, dem Bruder des jordanischen Königs.

Ab 1930 finden wir ihn in Jordanien, wo er die im Entstehen befindliche jordanische Armee zu einem schlagkräftigen, nach englischem Standard organisierten Verband von Beduinenkriegern formt und ihr Pascha, also ihr General wird.

Im Zweiten Weltkrieg kämpfte die Arabische Legion, auf Seiten der Alliierten im Irak, wo eine deutschlandfreundliche Regierung an die Macht gekommen war. Sie kämpfte aber auch in den von Vichy-Frankreich gehaltenen syrischen und libanesischen Mandatsgebieten.

Um im Westjordanland kein Machtvakuum entstehen zu lassen, überschritt Glubbs Legion am 15. Mai 1948 im Beisein des jordanischen Königs Abdallah den Jordan und marschierte in Richtung Jerusalem. Die jordanischen Kriegsziele waren maßvolle. Während die anderen arabischen Staaten, von ihren religiösen Autoritäten zum Dschihad aufgepeitscht, die Zerstörung Israels und die Massakrierung der Juden, zumindest aber ihre Vertreibung als Ziel ausgegeben hatten, wollte Jordanien lediglich ein möglichst großes Gebiet des ohnehin den Arabern zugedachten Teils Palästinas besetzen und unter seine Kontrolle bringen. Da König Abdallah als einziger arabischer Herrscher den UN-Teilungsplan gutgeheißen hatte, beabsichtigte er weder auf das Gebiet, das laut UN-Beschluss für Israel bestimmt war, vorzustoßen, noch sich an der Vernichtung des sich konstituierenden israelischen Staates zu beteiligen.

Freilich mussten die Jordanier ein delikates Problem lösen, nämlich Jerusalem. Diese mitten im arabischen Teil gelegene Stadt sollte nach dem UN-Plan unter internationale Verwaltung kommen. Damals lebten etwa 100.000 Juden in Jerusalem, die meisten davon in der Neustadt im Westen, ein kleinerer Teil auch im jüdischen Viertel der im Osten gelegenen Altstadt.

König Abdallah wollte zunächst an Jerusalem nicht rühren, doch auf arabischen Druck hin änderte er seine Absicht und befahl wenige Tage später doch den Angriff auf die Jerusalemer Altstadt. Das jüdische Viertel wurde erobert, seine Verteidiger gefangen genommen, der jüdischen Zivilbevölkerung der Abzug in die Neustadt aber erlaubt. Anschließend wurde das Viertel zerstört. Da die Jordanier die einzige Straße, die Tel Aviv mit Jerusalem verbindet, kontrollierten, war Westjerusalem von der jüdischen Außenwelt abgeschnitten. Israelische Angriffe, unternommen um den Zugang zu Jerusalem freizukämpfen, wurden von der arabischen Legion abgewehrt. Doch gelang es den Israelis in aller Eile, eine behelfsmäßige Straße zu errichten, auf der an den jordanischen Stellungen vorbei Güter in die eingeschlossene Stadt gebracht werden konnten, vor allem das lebenswichtige Wasser.

Glubb Pascha blieb inmitten des allgemeinen Meeres an hochgepeitschtem Fanatismus und der Barbarei menschlich. Er duldete keine Übergriffe der Araber auf die gefangenen Juden; und er adoptierte zwei arabische Waisenkinder.

*

Nicht nur im Westjordanland wurde gekämpft. Im Norden waren die Syrer eingefallen und versuchten, Galiläa unter ihre Kontrolle zu bringen. Im Süden drangen die Ägypter ins Land, mit der Absicht, sich einen Teil der palästinensischen Beute zu sichern. Und es gab die Armee des Heiligen Krieges, einen 12.000 Mann starken paramilitärischen Verband der palästinensischen Araber, dirigiert von dem in Kairo im Exil lebenden ehemaligen Großmufti von Jerusalem. Der Vollständigkeit wegen muss erwähnt werden, dass auch irakische Einheiten in Palästina präsent waren, und zwar im nördlichen Teil des Westjordanlandes. Auch der Libanon hatte Israel den Krieg erklärt, doch dessen Armee war zu mickrig, um bei den Kämpfen in Erscheinung zu treten.

Die Akteure des palästinensischen Theaters, wie die Engländer einen Kriegsschauplatz nennen, waren auf den Plan getreten, die Tragödie konnte beginnen. Es kann nicht die Aufgabe dieser Schrift sein, die Details der sich in den nächsten Wochen und Monaten abspielenden, von zwei Waffenstillständen unterbrochenen Kämpfe zu schildern. Im Vergleich mit dem, was später folgen sollte, waren sie eher mindere Gemetzel. Es wäre freilich falsch zu glauben, die arabischen Armeen wären gekommen, ihren palästinensischen Glaubensbrüdern zu ihrem Recht zu verhelfen. Vielmehr wollte man Israel vernichten und Palästina unter sich aufteilen oder, falls dieses Maximalziel verfehlt werden sollte, sich wenigstens einige Teile aus der palästinensischen Beute sichern. Entsprechend brüchig war daher die arabische Koalition. Besonders die jordanischen Erfolge wurden von den anderen Koalitionären eifersüchtig registriert. Auch der Mufti in Kairo war beunruhigt, denn ein Sieg seiner arabischen Brüder würde seinen Traum von einem eigenständigen palästinensischen Staat mit seiner Person an der Spitze in unabsehbare Ferne gerückt haben.

Es kam wie es kommen musste. Die maßvollen Jordanier behaupteten sich im Westjordanland, während die Armeen der anderen arabischen Länder binnen weniger Wochen und Monate aus Palästina vertrieben wurden, wobei die Israelis sogar entlang der Mittelmeerküste auf ägyptisches Gebiet vordringen konnten, sich aber auf englischen Druck hin von dort zurückziehen mussten.

Retrospektiv kann dieses Ergebnis wenig verwundern. Die Israelis hatten die Zeit genutzt; sie hatten sich in den Jahrzehnten davor die Strukturen zugelegt, die ein Staat benötigt; sie waren daher vom ersten Tag an in der Lage, die staatliche Autorität auf das ihnen zugedachte Gebiet auszuüben. Sie hatten eine nationale Ideologie, sie hatten Staatsmänner ― in der Person von Golda Meir sogar eine Staatsfrau ―, die diese Ideologie geformt hatten, sie hatten eine Regierung, eine Armee, einen Generalstab und was sonst noch alles zum Brimborium eines Staates gehört. Und sie waren international vernetzt. Mit einem Wort: Die Israelis waren im Stande, das Machtvakuum, das nach dem Abzug der Engländer entstanden war, von der ersten Stunde an auszufüllen.

Fast wäre ich in Versuchung, die israelische Staatskunst zu bewundern, würden mir nicht folgende Sätze einfallen, die Nietzsche seinem Zarathustra in den Mund gelegt hat: Staat heißt das kälteste aller kalten Ungeheuer. Kalt lügt es auch; und diese Lüge kriecht aus seinem Munde: „Ich, der Staat, bin das Volk.“

Seit Jahren redet man abwechselnd von der Einstaatenlösung, dann wieder von der Zweistaatenlösung und tritt auf der Stelle. Womöglich sollte sich Israel an seine anarchischen Anfänge erinnern und es mit der Nullstaatenlösung versuchen, diese zumindest in Erwägung ziehen…

*

Mitten im Krieg von 1948, und zwar in der Zeit des ersten Waffenstillstands, kam es zu einem Ereignis, das bei Lichte betrachtet wie kaum ein anderes in nuce das Schicksal vorausnehmen sollte, dem der eben gegründete Staat entgegenging. Man könnte es gleichsam als sein Geburtshoroskop ansehen. Als Hauptakteure in der Konstellation dieses Horoskops sind drei Lebende und ein Toter zu nennen. Letzterer ist der 1940 in New York gestorbene radikale Zionist Jabotinsky, die Lebenden aber waren der erste Ministerpräsident Israels, David Ben Gurion, und zwei künftige Ministerpräsidenten, Menachem Begin und Jitzchak Rabin, alle Schwergewichte der israelischen Geschichte und Politik.

Wie die Exodus-Affäre ist auch dieser Vorfall nach einem Schiff, der Altalena, benannt. Die Altalena war ein Landungsboot der US-Marine, das die Irgun erworben hatte, um an den Engländern vorbei Immigranten nach Palästina zu bringen. Die Irgun hatte das Schiff selbstverständlich umbenannt und ihm das Schriftstellerspseudonym ihres Hausheiligen Jabotinsky als Namen gegeben.

Bei ihrer letzten Fahrt nach dem Gelobten Land hatte die Altalena nicht nur 950 von der Irgun rekrutierte Männer im wehrfähigen Alter an Bord, sondern auch eine große Menge an Waffen, die die Irgun in Frankreich bestellt hatte. An der Frage, wer diese Waffen bekommen solle, entbrannte ein blutiger Streit.

Am 31. Mai 1948, wenige Tage vor dem Eintreffen der Altalena am 11. Juni, wurden die IDF, also die Armee des neuen Staates Israels gegründet. In ihr sollten alle paramilitärischen Organisationen des Landes aufgehen, also die Hagana und ihre Untergrundorganisation Palmach, aber auch Begins Irgun und die Lechi. Begin, um seine Macht und seinen Einfluss besorgt, war zwar bereit, seine Einheiten der staatlichen Armee zu unterstellen, allerdings nur für den Kampf innerhalb der Grenzen des neuen Staates. Außerhalb dieser wollte er auf eigene Faust weiter für das Großisrael seines verstorbenen Mentors Jabotinsky kämpfen. Dieses „Außerhalb“ war natürlich jener Teil Palästinas, der nach dem UN-Teilungsplan arabisch werden sollte.

Begin beanspruchte daher die Waffen, welche die Altalena ins Land brachte, exklusiv für die Organisation, die er befehligte. Das konnte von Ben Gurion nicht hingenommen werden, denn das hätte die Autorität der Regierung, der er seit wenigen Wochen vorstand, gefährdet. Er befürchtete, wohl zurecht, die Errichtung einer Armee in der Armee und das Putschpotential dieser Armee gegen seine Regierung.

Als sich die Altalena der israelischen Küste näherte, einigte man sich nach einigem Hin und Her, dass sie am Strand nördlich von Netanja, einer Hochburg von Ben Gurions Arbeiterpartei, landen und entladen werden sollte. Als das Schiff eintraf, konnte die Irgun einen Teil der Waffen an Land bringen, doch dann wurde der Landebereich von Einheiten der Hagana und des Palmach umstellt und die Irgun ultimativ aufgefordert, die Waffen bis auf einen Rest von zwanzig Prozent an die Soldaten der Regierung zu übergeben. Als der die Landung beaufsichtigende Begin diesen Kompromiss ablehnte, kam es zu einer Schießerei, an der sich aber nicht alle Soldaten der Hagana beteiligten, weil sie es ablehnten, auf Juden zu schießen. Auf Vermittlung der örtlichen Siedler wurde die Schießerei, die einige Tote zur Folge hatte, schließlich eingestellt und die bereits an Land befindlichen Waffen den Soldaten der Hagana übergeben.

Die Altalena nahm Begin an Bord und nahm Kurs auf Tel Aviv. An diesem politisch für ihn günstigeren Ort hoffte der Irgunführer, die restlichen Waffen entladen zu können, ohne sie der Regierung übergeben zu müssen. Das Schiff strandete symbolisch exakt ausgerechnet hundertfünfzig Meter vor dem Hauptquartier der Palmach, in dem sich, wiederum symbolisch exakt, zufällig einer ihrer jungen Kommandeure aufhielt: Jitzchak Rabin, der vierte in der von mir so bezeichneten Konstellation.

Die Palmach, ab 1948 das Rückgrat der israelischen Armee, war eine Elitetruppe, welche die Engländer 1941 aus den Reihen der Hagana gebildet hatten. Gemeinsam mit ihr wollte man einen möglichen Angriff Deutschlands auf Palästina abwehren. Später, als diese Gefahr gebannt war, kämpfte die Palmach als Teil der Jüdischen Brigade auf Seiten der Alliierten. Mit der Irgun war sie verfeindet, da sie nach 1945 den Engländern bei der Bekämpfung des jüdischen Terrors assistierte. An ihrer Loyalität zur Regierung Ben Gurions konnte nicht gezweifelt werden. Es war daher naheliegend, eine ihrer Einheiten zu beauftragen, mit der Irgun den Showdown um die Waffen auszutragen, zumal der örtliche Kommandeur der Hagana befürchtete, ein Teil seinen Truppen würde sich weigern, auf Juden zu schießen, wie das zuvor ja schon am Strand von Netanja geschehen war. Zum Kommandanten dieser Einheit wurde der junge Jitzchak Rabin bestimmt, der damit zum ersten Mal in den Brennpunkt der Geschehnisse geriet und dessen persönliches Schicksal mit dem seines Landes auf das Engste verwoben ist.

Als sich die erste mit Waffen beladene Barkasse der Altalena dem Strand näherte, eröffnete die Palmach das Feuer. Es gab einige Tote und Verletzte, wonach das Feuer und die Landeversuche für einige Stunden eingestellt wurden. Nach einer Krisensitzung der Regierung wurde die Altalena ultimativ aufgefordert, alle Waffen an die Palmach zu übergeben. Als man diesem Befehl nicht nachkam, wurde das Schiff vor den Augen einer großen Menge an Schaulustigen mit einer Kanone in Brand geschossen. Weil der Kapitän der Altalena befürchtete, das Schiff könnte wegen der an Bord befindlichen Munition explodieren, wurde die weiße Fahne gehisst und die an Bord befindlichen Passagiere aufgefordert, sich schwimmend an das nahe Ufer zu retten. Begin wurde an Land gebracht und entging seiner Festnahme. Über den Untergrundsender der Irgun forderte er seine Kämpfer auf, das Feuer einzustellen.

Ben Gurions Regierung hatte ihren Willen durchgesetzt, der junge Staat seine erste innenpolitische Zerreißprobe bestanden.

Insgesamt kamen bei den Gefechten sechzehn Irgun-Kämpfer und drei Regierungssoldaten ums Leben. Zweihundert Irgun-Kämpfer wurden für wenige Wochen festgenommen, die Irgun aber, wie die Hagana und die Palmach auch, als selbständige Organisation aufgelöst und ihre Kämpfer dem einheitlichen Kommando der im Entstehen begriffenen israelischen Armee unterstellt. Der Rottenmeister Begin hatte die Machtprobe mit dem alten Löwen Ben Gurion verloren. Vorerst weitgehend entmachtet, beschloss er, Politiker zu werden und machte sich auf den Weg durch die Institutionen. Er gründete die Cherut-Partei, welche 25 Jahre später zum Seniorpartner des Bündnisses werden sollte, das sich den Namen Likud gab und das Ben Gurions Arbeiterpartei Mapei/Awoda als dominierende politische Kraft Israels ablöste. Die Geschicke des Landes bestimmt Likud bis auf den heutigen Tag.

Die Altalena brannte zwar, doch sie explodierte nicht. Als rußgeschwärztes Menetekel steckte sie noch etwa ein Jahr lang am Strand von Tel Aviv fest. Dann wurde sie aufs offene Meer geschleppt und dort versenkt. Aus den Augen, aus dem Sinn, wenn man so will. Doch die Kluft zwischen links und rechts war nicht so leicht aus der Welt zu schaffen. Sie blieb bestehen, ja sie vertiefte sich sogar. Ben Gurion nahm den Namen „Begin“ nie mehr in den Mund, sondern er nannte ihn, wenn er genötigt war, über ihn zu sprechen, immer nur den Mann, der in der Knesset neben dem Abgeordneten Soundso sitzt. Die Kanone aber, welche die Altalena in Brand geschossen hatte, kann am Ort des Geschehens auch heute noch besichtigt werden.

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Rabin wurde 1974 zum ersten Mal Ministerpräsident, sein alter Widersacher Begin löste ihn im Jahr 1977 ab. Die sterblichen Überreste des Mannes aber, nach dem die Altalena benannt war, konnten erst dann von New York nach Israel überführt werden, als Ben Gurion abgetreten war.

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Welch finstere Kräfte an der Wiege des neuen Staates gestanden haben, zeigt auch die Ermordung des Grafen Bernadotte durch die Lechi. Diese in dem vorliegenden Text schon öfter erwähnte Terrororganisation war eine Abspaltung der Irgun, wie diese eine Abspaltung der Hagana war. Entzweit hatte man sich an der Frage, welche Politik man nach dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges gegenüber der englischen Mandatsmacht verfolgen sollte. Hatte man die Engländer, des Weißbuchs wegen, zuvor noch gemeinsam bekämpft, entschied sich die Mehrheitsfraktion der Irgun zu Kriegsbeginn für eine Kooperation mit ihnen, die Lechi hingegen sah den Hauptfeind nach wie vor in England und hoffte vergeblich auf die Unterstützung durch Deutschland. Freilich war damals noch nicht bekannt, welchem Schicksal die europäischen Juden entgegengingen.

Graf Bernadotte, der Präsident des schwedischen Roten Kreuzes, hatte 1945 ein Waffenstillstandsangebot Himmlers entgegengenommen und an die Alliierten weitergeleitet. Im Mai 1948 wurde er von der UNO nach Israel entsandt, um zwischen den Konfliktparteien zu vermitteln. Den Zorn der Zionisten, insbesondere der radikalen unter ihnen, erregte er, weil er sich für die Rückkehr der geflüchteten Palästinenser in ihre Heimatdörfer, die Internationalisierung Jerusalems und die Rückgabe der Negevwüste an die Araber einsetzte. Die Führung der Lechi, der auch der spätere israelische Ministerpräsident Jitzhak Shamir angehörte, beschloss daher, ihn zusammen mit dem UN-Beobachter André Serot aus dem Weg zu räumen. Eine Ungeheuerlichkeit, die deutlich zeigt, dass es in Israel Kräfte gab, die vor nichts zurückschreckten, auch nicht vor der Ermordung der Repräsentanten jener internationalen Organisation, der man seine staatliche Existenz verdankte.

Die Morde wurden nie gesühnt, die Drahtzieher nie verfolgt und vor Gericht gestellt. Die UNO musste ohnmächtig den Mord an ihren Beauftragten hinnehmen, die Regierung Ben Gurions aber zog schon bald mit einer Generalamnestie den Schlussstrich unter diese Affäre. In Begins Cherut-Partei fanden die Aktivisten der Lechi mit denen der Irgun wieder zu einander, denn der Grund ihrer Entzweiung war mit dem Abzug der Engländer entfallen.

Nachzutragen wäre an dieser Stelle auch noch die Ermordung des englischen Staatsministers für den Nahen Osten Walter Edward Guinness im Herbst 1944 in Kairo, ebenfalls durch Angehörige der Lechi. Der mit Churchill eng befreundete Guinness sorgte sich um die arabisch-englischen Beziehungen. Er stand daher der Gründung eines Judenstaates in Palästina ablehnend gegenüber und schlug stattdessen seine Errichtung auf deutschem Boden vor, was ein Akt der historischen Gerechtigkeit gewesen wäre. Ein solcher Boden hätte beispielsweise Schlesien oder Ostpreußen sein können, beides Gebiete des besiegten Deutschen Reiches, die Polen zugeschlagen wurden, nachdem die Rote Armee die deutsche Bevölkerung von dort vertrieben hatte. Auf Guinness‘ Anraten wurde auch der Vorschlag Himmlers, bis zu einer Million Juden gegen die Lieferung von 14.000 LKWs nach Israel zu lassen, von den Alliierten abgelehnt.

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Das Ergebnis des Krieges von 1948 war, dass die Israelis ihr Gebiet beträchtlich vergrößern konnten. Statt der 55 Prozent des ehemaligen Mandatsgebietes, das ihnen laut UN-Teilungsplan zugedacht worden war, beherrschten sie nun 77 Prozent. Freilich ist zu berücksichtigen, dass ein großer Teil davon die große unfruchtbare Negev-Wüste war. Landgewinne konnten sie insbesondere in Galiläa verzeichnen. Auch ein schmaler Streifen des Westjordanlandes sowie der Korridor von der Küste nach Westjerusalem wurde israelisch. Vermerkt sei außerdem noch, dass der Gazastreifen, nach dem UN-Teilungsplan Israel zugedacht, ägyptisch wurde, wohl deshalb, weil 1948 kaum Juden dort siedelten und er von palästinensischen Flüchtlingen voll war.

Der andere Sieger des Krieges hieß Jordanien, denn das Land konnte das Westjordanland okkupieren und sich darin behaupten. Verloren haben die arabischen Regierungen. Großsprecherisch hatte ihre Propaganda ihren Völkern vorgegaukelt, man werde einen glänzenden Sieg erringen, den Zionismus vernichten und die Juden im Meer ersäufen. Da sie es nicht gewagt hatten, ein realistisches Bild vom Kriegsverlauf zu geben, war, nachdem die arabische Niederlage nicht mehr geleugnet werden konnte, die Wut und die Enttäuschung der fanatisierten Menschen groß. Nach und nach wurden die arabischen Regierungen gestürzt und ihre Spitzen ermordet. Die Ausnahme war wiederum Jordanien.

Der Krieg hatte hunderttausende Flüchtlinge zur Folge. Dass die Palästinenser aus dem Gebiet des entstehenden Israel flüchteten oder flüchten mussten, ist allgemein bekannt ― die propalästinensische Propaganda erinnert immer wieder daran. Bekannt ist ebenfalls, dass Israel den Geflohenen die Rückkehr verweigerte und alles was sie an Besitz zurückgelassen hatten, insbesondere ihren Grund und Boden, konfiszierte. Weniger bekannt sind die antijüdischen Ausschreitungen in den besiegten arabischen Ländern nach dem Krieg und die Vertreibung der Juden aus diesen. Fast eine Million orientalischer Juden mussten die islamischen Länder, in denen sie seit Jahrhunderten gut integriert waren, verlassen, unter Zurücklassung ihres gesamten Besitzes. Ein beträchtlicher Teil von ihnen floh nach Israel. Allein bis 1951 erreichte über eine Viertel Million von ihnen den neuen Staat und sorgte für einen sprunghaften Anstieg seiner Bevölkerungszahl.

Der Untergang der jüdischen Gemeinden in den arabischen Staaten zeigt, wie brüchig, ja verfehlt das zionistische Projekt in Wahrheit war. Ging es diesem nicht darum, den Juden der Welt eine nationale Heimstätte zu schaffen? Das ist zweifellos geschehen und kann auf der Habenseite der zionistischen Bilanz verbucht werden. Es gilt aber auch, die Sollseite dieser Bilanz zu betrachten und das Schicksal jener Juden zu würdigen, die durch das zionistische Projekt ihre Heimstätte verloren haben, indem sie packen und aus den arabischen Ländern, in denen sie seit vielen Jahrhunderten gut integriert gelebt hatten, emigrieren mussten. Viele, vor allem die Armen unter ihnen, emigrierten nach Israel, wo sie zumindest in den ersten Jahren ein Schicksal erwartete, welches dem der Palästinenser nicht unähnlich war. Wie die Geflüchteten unter diesen mussten sie in Lagern leben, wie jene von ihnen, die in Israel geblieben waren, wurden sie von dem damals noch den Ton angebenden aschkenasischen Teil der israelischen Bevölkerung als Bürger zweiter Klasse verachtet.

Betrachten wir als Beispiel das Ende der jüdischen Gemeinde im Irak und die wenig gewürdigte Tragödie, welche dieses Ende für das Judentum bedeutete. Im heutigen Irak gab es eine jüdische Gemeinde seit der babylonischen Gefangenschaft der Juden in der Zeit des Königs Nebukadnezar des Zweiten und der ersten Zerstörung des Jerusalemer Tempels vor über zweieinhalb Jahrtausenden; also schon in den Tagen, da auf der Akropolis zu Athen oder auf dem Kapitol zu Rom noch die Schafe weideten.

Die Bedeutung der babylonischen Gemeinde für das Judentum kann kaum überschätzt werden und steht der Bedeutung Jerusalems kaum nach. War die Richtung, die das Judentum nach der zweiten Zerstörung des Jerusalemer Tempels durch den späteren römischen Kaiser Titus einschlug, nicht maßgeblich in Babylon gestaltet worden? War es nicht im kosmopolitischen Babylon, wo der jüdische Geist geschärft wurde? Ist nicht der nach der Bibel vielleicht wichtigste Text des Judentums, der babylonische Talmud, benannt nach dem Ort seines Entstehens? Ist es überhaupt denkbar, dass das Judentum überlebt haben würde ohne das religiöse Fundament, das in Babylon gelegt wurde?

Die jüdischen Flüchtlinge aus den arabischen Staaten sind die Kehrseite der Medaille. Wie die palästinensischen Flüchtlinge mussten auch sie fürs erste mit primitiven Flüchtlingslagern vorliebnehmen, denn Israel war auf einen solchen Flüchtlingsstrom nicht vorbereitet. Doch nach und nach, unter Maßgabe der Leistungsfähigkeit des jungen mit Anfangsschwierigkeiten kämpfenden Staates, wurden diese Neuankömmlinge in die damals noch aschkenasisch geprägte Mehrheitsbevölkerung integriert. Das war eine Leistung, die nicht hoch genug zu würdigen ist und die man bei der Gesamtbeurteilung Israels nicht außer Acht lassen sollte.

Die Palästinenser hingegen wurden kaum irgendwo integriert; teilweise leben sie und ihre Nachkommen auch heute noch in den armseligen Lagern, in denen man sie nach ihrer Flucht gepfercht hatte. Sie erhielten in den Ländern, in die sie geflüchtet waren, weder Staatsbürgerschaft noch Arbeitserlaubnis und waren auf internationale Hilfe angewiesen. Die Ausnahme ist wiederum Jordanien, das der einzige arabische Staat war, der zumindest Teilen der ins Land geflüchteten Palästinensern die Staatsbürgerschaft anbot.

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Bei einigem guten Willen hätte man nach dem Krieg von 1948 Frieden schließen können. Auf beiden Seiten gab es Vertriebene, auf beiden Seiten Flüchtlingsströme, und was den Israelis möglich war, nämlich geflüchtete mittellose Juden zu integrieren, wäre auch den arabischen Staaten mit den geflüchteten Palästinensern zumutbar gewesen, insbesondere wenn man bedenkt, wie groß die arabische Welt im Vergleich mit dem winzigen Israel war und ist. Das Allervernünftigste wäre aber die Annexion des Westjordanlandes an Jordanien gewesen und die Anerkennung dieser Annexion durch die Weltgemeinschaft, denn das hätte für klare Verhältnisse gesorgt.

Doch am guten Willen mangelte es, insbesondere auf der arabischen Seite, wenn man vom jordanischen König Abdallah absieht. Im Juni 1951 klagte dieser einem amerikanischen Diplomaten sein Leid:

Ich bin ein alter Mann. Ich weiß, dass meine Macht begrenzt ist. Ich weiß, dass ich von meinem Sohn gehasst werde. Ich weiß auch, dass mich mein eigenes Volk für meine Friedensbemühungen verabscheut. Aber trotzdem weiß ich, dass ich eine Friedenslösung finden könnte, wenn ich nur etwas Unterstützung erhielte und wenn ich von Seiten Israels vernünftige Zugeständnisse erhalten könnte.

Einen Monat später wurde König Abdallah in der Al-Aksa-Moschee zu Jerusalem erschossen, und zwar von einem Palästinenser, der dem ehemaligen Großmufti Mohammed Amin al Husseini nahestand. Sein minderjähriger Enkel, der spätere jordanische König Hussein, war Augenzeuge dieser entsetzlichen Tat. Die Verbindung des Attentäters zum ehemaligen Großmufti ist vielleicht ein Hinweis dafür, dass Abdallah nahe dran war, die geforderte israelische Unterstützung zu erhalten.

Doch trotz des Attentates behaupteten sich die Haschimiten auf dem jordanischen Thron ― sie tun es bis heute. Ein Jahr nach dem Attentat auf König Abdallah wurde der nicht ganz siebzehnjährige Hussein zum König proklamiert, denn sein Vater, der dem Ermordeten unmittelbar nachgefolgt war, litt an Schizophrenie, erwies sich für sein Amt als ungeeignet und musste den Thron für seinen Sohn räumen. Dieser sollte, ein würdiger Nachfolger seines Großvaters, 47 Jahre König bleiben, trotz der mehr als dreißig Attentate, die auf seine Person verübt wurden und trotz mehrerer Komplotte, unternommen zu seinem Sturz. Zur Seite stand dem jungen König in den ersten Jahren seiner Regierung Glubb Pascha, der verdienstvolle General und Berater seines Großvaters. Doch wurde Glubb für die israelfreundliche Friedenspolitik König Abdallahs verantwortlich gemacht, die einem Großteil der Jordanier, besonders aber den palästinensischen Flüchtlingen und den anderen arabischen Regierungen ein Dorn im Auge war. Dem Druck, der auf den jungen König ausgeübt wurde, konnte dieser nicht standhalten, ohne die haschemitische Herrschaft über Jordanien zu gefährden. Und so blieb ihm nichts anderes übrig, als im Jahr 1956, als die Suezkrise, von der gleich die Rede sein wird, hochkochte, den verdienstvollen Pascha und die in jordanischen Diensten verbliebenen englischen Offiziere zu entlassen. Unter Wahrung der persönlichen Freundschaft zum König ging Glubb in seine Heimat England zurück, wurde dort mit dem Hosenbandorden geehrt und starb hochbetagt.


8. Die Kriege von 1956 und 1967

1956 ließ sich der junge israelische Staat zu einem militärischen Abenteuer verleiten. In Ägypten war 1952 der König von einer Gruppe junger Offiziere, allesamt Veteranen des Krieges von 1948, gestürzt worden. Unter diesen Offizieren war ein charismatischer Mann, der bald darauf die politische Bühne des Nahen Ostens betreten und für beinahe zwei Jahrzehnte lang der dominierende Akteur auf ihr werden sollte: Gamal Abdel Nasser. Als Nasser ägyptischer Präsident geworden war, verstaatlichte er den unter französischer Federführung und mit westlichem Kapital gebauten und 1869 eröffneten Suezkanal. Das wollten die durch zwei „gewonnene“ Weltkriege verzwergten ehemaligen Großmächte England und Frankreich nicht hinnehmen. Nach dem Schlachtplan, den sie in bester kolonialistischer Manier ausheckten, sollte zunächst Israel auf dem Landweg vorpreschen und Ägypten angreifen, England und Frankreich aber sollten dem jungen Staat mit ihren Kriegsflotten zu Hilfe eilen und den Kanal besetzen. Doch Nasser hatte sich außenpolitisch abgesichert, indem er sich vorsorglich an die UdSSR angenähert hatte. Der amerikanische Präsident Eisenhower, dem als ehemaligen alliierten Oberbefehlshaber die Schrecken des Krieges nur allzu gut bekannt waren, entschied sich, vor die Alternative gestellt, einen unter Umständen atomar ausgefochtenen Krieg gegen die UdSSR zu riskieren oder seine einstigen Verbündeten zurückzupfeifen, für das zweite und machte dem postkolonialistischen Spuk ein rasches Ende. Die Angreifer mussten sich zurückziehen, die UNO hinkte herbei und besetzte die Grenze zwischen Ägypten und Israel. Militärisch wurde Ägypten zwar besiegt, politisch aber ging das Land als Sieger aus dieser Krise hervor, denn der Suezkanal blieb verstaatlicht. Das ermöglichte es Präsident Nasser, sich zum unumstrittenen Führer der arabischen Welt und des Panarabismus aufzuschwingen. Die Vereinigte arabische Union wurde ins Leben gerufen. Sie bestand zunächst aus den Ländern Ägypten und Syrien. Später trat auch noch der Irak der Union bei. Zum ins Auge gefassten Beitritt des Nordjemens kam es nicht mehr, denn nach dem verlorenen Krieg von 1967 zerfiel die Union.

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Das Abenteuer, in das sich Israel 1956 verwickeln ließ, trug nicht zur Verbesserung seiner Beziehungen zum größten und bedeutendsten seiner arabischen Nachbarn bei, im Gegenteil. Es zeigte dem jungen Staat, wo es für ihn in Zukunft langgehen werde, nämlich weg von den perfiden Engländern und hinein in den Windschatten der USA. Es zeigt aber auch das Interesse, das England bei seinen Bestrebungen, einen jüdischen Staat zu gründen, geleitet hatte, nämlich sich einen Brückenkopf im Nahen Osten zu verschaffen.

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Im Juni 1967 kam es zu dem Waffengang Israels mit seinen arabischen Nachbarn, der als Sechstagekrieg in die Geschichtsbücher eingehen sollte. Bevor ich auf diesen eingehe, einige persönliche Reminiszenzen. Ich war, als es zum Krieg kam, noch Schüler in Kärnten und sollte das Jahr darauf maturieren. Deutlich in Erinnerung geblieben ist mir die Begeisterung, mit der ich und meine Klassenkameraden die Waffentaten der israelischen Armee verfolgten. Vor allem war da ein Mann, den man die Ikone des Krieges nennen könnte: ein schneidiger israelischer General mit schwarzer Augenklappe, der uns imponierte wie zuvor nur der Revolutionär Che Guevara. Gemeint ist natürlich der spätere israelische Außenminister Moshe Dayan. Auch die israelfreundliche Berichterstattung des österreichischen Rundfunks trug das Ihre zu unserer Begeisterung bei. Jedenfalls wurden die täglichen Nachrichten darüber, wie tief in Feindesland die israelischen Panzer schon vorgedrungen waren, von uns Halbwüchsigen gierig verschlungen und mit Begeisterung aufgenommen. Das war bemerkenswert insofern, als der Antisemitismus der Nazis besonders in Kärnten noch deutliche Spuren hinterlassen hatte und die antisemitischen Klischees, die sie verbreitet hatten, nach wie vor im Schwang waren. Auch uns Schülern waren sie geläufig; sie wurden von uns nachgeplappert, obwohl niemand einen Juden persönlich kannte und schon deshalb keine schlechten Erfahrungen mit einem solchen gemacht haben konnte. Wie auch, es gab ja in Kärnten keine mehr. Das Wort „Jude“ war jedenfalls emotional hoch aufgeladen, ähnlich wie das Wort „Tschusch“, mit dem ich, meiner slowenischen Herkunft wegen, von meinen Mitschülern ab und zu bedacht wurde. Es hatte einen Stich ähnlich dem, wie ihn die vulgären Ausdrücke für das Geschlechtliche haben. Es in einer gewöhnlichen Konversation auszusprechen, war mit einem Tabu behaftet, hatte daher den Charakter von etwas Verbotenem; es kam einem über die Lippen nur, wenn man emotionalisiert war, zum Beispiel dann, wenn man als Tschusch geschmäht worden war. Und so war der größte Schimpf, den man einem anderen antun konnte, ihn als Juden zu bezeichnen, als Revanche für die Schmähung als Tschusch gleichsam. Der emotionelle Spagat, den ich in dieser Zeit zu bewältigen hatte, war groß. Auf der einen Seite die verächtlich gemachten Juden, auf der anderen die heldenhaften Israelis, die sich gegen eine gewaltige Übermacht zu behaupten wussten. Waren sie überhaupt Juden, fragte ich mich?

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Wie kam es zu dem Krieg, an dem wir Kärntner Naseweise solchen Anteil genommen hatten? ― Schon die Jahre davor hatte es große Spannungen zwischen den verfeindeten Staaten gegeben. So versuchten die Syrer den Israelis das überaus kostbare Wasser abzugraben, indem sie Projekte in Angriff nahmen, welche zwei den See Genezareth und in weiterer Folge den Jordan speisende Flüsse umleiten sollten. Das konnte von den Israelis nicht hingenommen werden, denn sie waren, ihrer rasch wachsenden Bevölkerung wegen, auf dieses Wasser angewiesen. Und auch zur Belebung der riesigen Negevwüste wurde vor allem eines benötigt: Wasser, die Bedingung allen Lebens auf Erden. Die Israelis zerstörten daher die im Bau befindlichen Einrichtungen der Syrer kurzentschlossen aus der Luft.

Spannungen gab es auch mit Jordanien. Die von der jordanisch kontrollierten Westbank aus operierende Fatah, wie der bewaffnete Arm der Palästinensischen Befreiungsorganisation PLO heißt, hatte bei einem Angriff einige israelische Grenzpolizisten getötet. Als Vergeltung drangen israelische Fallschirmjäger in Jordanien ein und sprengten vierzig Häuser. König Hussein, der vor diesen Ereignissen Geheimverhandlungen mit Israel geführt hatte, geriet unter großen Druck. Da er befürchten musste, gestürzt zu werden, war er genötigt, seine Politik gegenüber seinen arabischen Nachbarn zu ändern. Das ging so weit, dass er sich genötigt fühlte, die jordanische Armee dem ägyptischen Oberbefehl zu unterstellen.

Die Anschläge häuften sich, die arabische Kriegsrhetorik wurde immer schriller, die israelischen Verantwortlichen immer besorgter. Schließlich forderte der ägyptische Präsident Nasser die UNO auf, die entmilitarisierte Zone, die nach dem Krieg von 1956 zwischen Israel und Ägypten auf der Sinaihalbinsel eingerichtet worden war, zu räumen. Als die UNO dem nachkam und als Nasser auch noch die am Südzipfel des Sinai gelegene Straße von Tiran sperren ließ, wodurch kein vom Roten Meer kommendes Schiff mehr den Hafen von Eilat erreichen konnte, war das Maß voll. Die israelische Führung entschloss sich zum Präventivkrieg, der mit einer demütigenden Niederlage der Araber endete.

Die Überraschung gelang perfekt. Den ersten Schlag führte am 5. Juni die israelische Luftwaffe aus. Sie griff die ägyptischen Flugplätze an und zerstörte den Großteil der Flugzeuge, die sich Ägypten in der Zwischenzeit von der Sowjetunion zugelegt hatte, auf dem Boden. Dann rollten die Panzer. Ohne Unterstützung aus der Luft hatten die Ägypter keine Chance, die israelischen Panzer erreichten den Suezkanal und standen bereit, ihn zu überqueren und auf das gut hundert Kilometer entfernte Kairo vorzudringen.

Auch Jordanien konnte keinen ernsthaften Widerstand leisten. Die Israelis rückten in Ostjerusalem ein und besetzten das seit dem Krieg von 1948 von Jordanien okkupierte Westjordanland.

Schlecht erging es auch den Syrern. Nachdem Ägypten erledigt war, griffen die Israelis ihre Stellungen auf dem Golan an und vertrieben sie. Ein israelischer Vorstoß auf Damaskus lag im Bereich des Möglichen, doch schon am 11. Juni wurde auf internationalen Druck hin an allen Fronten ein Waffenstillstand vereinbart.

Die Israelis hatten auf ganzer Linie gesiegt. Sie kontrollierten die Sinaihalbinsel bis zum Suezkanal, der daraufhin für viele Jahre geschlossen bleiben sollte. Sie hatten sich auf den Golanhöhen festgesetzt, sie hatten das Westjordanland und somit ganz Jerusalem besetzt und sie hatten die Jordanier gezwungen, sich zurückzuziehen. Doch schon wenige Tage nach dem Sieg ihrer Truppen kündete die israelische Regierung an, die besetzten Gebiete zurückgeben zu wollen, und zwar unter der Bedingung, dass Frieden geschlossen werden würde und der Staat Israel diplomatisch anerkannt. Das waren, wie man wohl sagen darf, maßvolle, billige Bedingungen.

Die arabischen Führer ließen sich mit der Antwort etwas Zeit, doch auf der drei Monate später in Karthum abgehaltenen Konferenz der Arabischen Liga wurde die Tür krachend zugeschlagen, indem man dreimal Nein sagte: nein zum Frieden mit Israel, nein zu Verhandlungen mit Israel und nein zur diplomatischen Anerkennung seiner Existenz.

Die Reaktion der arabischen Machthaber ist verständlich. Zuviel an billigem nationalistischem Fusel hatten sie ihren Völkern schon kredenzt. Und sie hatten eine beschämende, sie ins Mark treffende Niederlage erlitten. Eine Verständigung mit Israel hätte ihre Regime unweigerlich ins Schleudern gebracht, indem noch radikalere, noch extremistischere Kräfte hochgespült worden wären. Diese hätten den Sturz ihrer Führer betrieben, indem sie die Herrschenden als Verräter an der arabischen Sache gebrandmarkt hätten.

Nasser, der bis dahin dominierende Akteur auf der pan-arabischen Bühne, hatte durch die Niederlage von 1967 sein Ansehen beim ägyptischen Volk weitgehend verspielt ― es war gerade noch ausreichend, dass er sich in seinem Amt behaupten konnte. Drei Jahre später starb er, und zwar in dem Monat, der als Schwarzer September in die Geschichtsbücher eingehen sollte. Seine letzte politische Tat war, dass er den Waffenstillstand zwischen Jordanien und der PLO vermitteln konnte. Doch davon später mehr.


9. Der Krieg von 1973 und der Ausgleich mit Ägypten

Nassers Nachfolger als ägyptischer Präsident wurde sein Stellvertreter Anwar el Sadat, ein Mann von pragmatischerem Zuschnitt als sein Vorgänger. Durch den Krieg von 1973, den sogenannten Jom-Kipur-Krieg, sollte er die Ehre der ägyptischen Nation wieder herstellen, indem es ihm gelang, das Trauma der Niederlage von 1967 zu überwinden und seine gedemütigte Nation dadurch friedensfähig zu machen.

Der ägyptische Angriff erfolgte am 6. Oktober 1973, am Tag des höchsten jüdischen Festes. Die Ägypter und die mit ihnen verbündeten Syrier hatten dieses Datum gewählt, weil sie hofften, den Stillstand des öffentlichen Lebens, der an diesem Tag in Israel herrscht, für sich ausnützen zu können.

Massiv von Artillerie und Luftwaffe unterstützt, überquerten die Ägypter den Suezkanal und durchbrachen an mehreren Stellen die Bar-Lev-Linie, wie die etwa 200 km lange Verteidigungsanlage genannt wurde, welche die Israelis nach dem gewonnenen Blitzkrieg von 1967 am Ostufer des Suezkanals errichtet hatten. Die ägyptische Armee hatte sich gut auf die ihr gestellte Aufgabe vorbereitet und vollbrachte eine bemerkenswerte logistische Leistung. Hinter der Bar-Lev-Linie wurden Luftlandetruppen abgesetzt, vorne bearbeiteten ägyptische Pioniertruppen mit großen Wasserkanonen die von den Israelis aufgeschütteten Erd- oder Sandwälle und spülten Breschen in diese. Pontonbrücken wurden errichtet, auf denen die Masse der ägyptischen Armee den Kanal, der etwa so breit ist wie die Donau in Wien, überqueren konnte. Diesem Angriff war die dünn besetzte Bar-Lev-Linie nicht gewachsen, sodass sie schnell überrannt wurde; schon vier Tage später war ein bis zu 15 km breiter Streifen entlang des Kanals in ägyptischer Hand. Im Norden aber drangen syrische Truppen ins Gebiet ein, das die Israelis den Syrern 1967 abgeknöpft hatten.

Der ägyptische Angriff überraschte die israelische Führung unter der Ministerpräsidentin Golda Meir, obwohl sie hochrangig vor ihm gewarnt worden war. König Hussein von Jordanien hatte einen Monat zuvor am Gipfeltreffen der Staatschefs Ägyptens und Syriens in Kairo teilgenommen und dort gespürt, dass etwas Großes im Busch war. Da er sich, anders als im Jahr 1967, aus dem Krieg raushalten wollte, sich tatsächlich auch rausgehalten hat, flog er anschließend nach Tel Aviv und teilte seine Befürchtungen der israelischen Regierung mit, freilich ohne ihr den genauen Angriffstermin nennen zu können.

Er war nicht der einzige Warner. Wie erst Jahrzehnte später bekannt wurde, gelang es dem israelischen Geheimdienst mit der Person des Schwiegersohnes des verstorbenen Präsidenten Nasser einen hochrangigen Spion anzuwerben. Dieser konnte das, was König Hussein der israelischen Regierung mitteilte, nicht nur bestätigen, sondern auch noch mit wichtigen Details ausmalen. Doch die israelische Regierung ignorierte diese Warnungen, unternahm nichts und brachte das Land in eine gefährliche Situation. Hätte man die dünn besetzte Bar-Lev-Linie rechtzeitig mit Soldaten aufgefüllt und einen Teil seiner Panzer hinter dieser Linie konzentriert, so hätte man den Versuch der Ägypter, den Suezkanal zu überqueren, abwehren können, ohne größere Verluste hinnehmen zu müssen. Diese Versäumnisse kosteten Monate später Golda Meir das Amt.

So aber hatten die Ägypter das wichtigste Hindernis auf dem Weg nach Israel, den Suezkanal, überwunden; sie hatten auf der Sinaihalbinsel fußgefasst, und ihre Panzer waren bereit, auf das israelische Kernland zu zurollen.

Doch dazu sollte es nicht kommen. Zwar hatten die Israelis den ägyptischen Angriff verschlafen, doch gelang es ihnen weit schneller als von den Ägyptern erwartet, ihre Reserven zu mobilisieren und Verstärkungen in Richtung Suezkanal in Marsch zu setzen. Die vom ägyptischen Angriff und seinen Anfangserfolgen geschockte israelische Regierung erwog auch den Einsatz von Atombomben ― in den israelischen Kriegen immer ein Thema ― und gab den Befehl, die nötigen Vorbereitungen für ihren Einsatz zu treffen. Das rief die USA auf den Plan, für die der Einsatz von Atombomben nur als Ultima Ratio gegen den geopolitischen Rivalen Sowjetunion gedacht, sonst aber absolut tabu war. Israel sollte zwar siegen, zumindest nicht besiegt werden, doch ausschließlich mit konventionellen Mitteln. Zu diesem Zweck wurde von der amerikanischen Regierung unter Präsident Nixon eine gigantische Luftbrücke eingerichtet. Alles was fliegen konnte, wurde aufgeboten, um die Israelis mit militärischem Gerät wie Kampfflugzeugen, Panzern, Kanonen, Munition und dergleichen zu versorgen und die hohen Verluste, die sie hinnehmen mussten, auszugleichen. Schon wenige Tage nach Beginn des ägyptischen Angriffs kam es zu großen Panzerschlachten, die Ägypter wurden besiegt und gezwungen, sich wieder hinter den Suezkanal zurückzuziehen, unter Preisgabe einer ganzen Armee, die ― vom Nachschub abgeschnitten ― auf Sinai zurückbleiben musste und ihrer Vernichtung entgegensah. In weiterer Folge gelang es den Israelis, am Kanal Brückenköpfe zu bilden und ihn auf eilig errichteten Pontonbrücken mit ihren Panzern zu übersetzen. Der Weg nach Kairo war freigekämpft. Auch im Norden hatten die Israelis gesiegt und den syrischen Angriff auf die besetzten Golanhöhen binnen weniger Tage abgewehrt.

Am 22. Oktober forderte auf Druck der Amerikaner der UN-Sicherheitsrat in einer Resolution die Kriegsparteien auf, das Feuer einzustellen. Zwei Tage später schwiegen die Waffen. Die Israelis waren, mit massiver amerikanischer Unterstützung freilich, mit einem blauen Auge davongekommen; sie konnten sich einbilden, gesiegt zu haben, denn sie standen am Westufer des Suezkanals. Auch die Ägypter konnten mit dem Ergebnis des Krieges zufrieden sein. Sie hatten gezeigt, dass sie nicht mehr der inferiore Gegner der Kriege von 1948 und 1967 waren; und die ägyptische Führung konnte dem Volk glaubhaft versichern, man hätte den Krieg gewonnen, wenn die Amerikaner den Israelis nicht massiv geholfen hätten. Die tief gekränkte ägyptische Ehre war also wieder hergestellt. Die Israelis mussten sich zehn Kilometer hinter den Suezkanal zurückziehen, sodass die Ägypter die Wiedereröffnung des blockierten Kanals ins Auge fassen konnten. Er würde bald wieder die wichtige Einnahmequelle für Ägypten werden, die er vor dem Krieg von 1967 gewesen war, doch zuvor musste er von kriegsbedingten Hindernissen wie Minen oder Schiffwracks befreit werden. Und so dauerte es bis zum Jahr 1975, bis der Suezkanal wieder feierlich eröffnet werden konnte.

Präsident Sadat stand auf dem Höhepunkt seines Prestiges und Ansehens. Er hatte inzwischen einen außenpolitischen Kurswechsel vollzogen. Setzte sein Vorgänger Nasser noch ganz auf die Unterstützung durch die Sowjetunion und auf den Sozialismus ― die Sowjetunion hatte die ägyptische Armee bewaffnet und den riesigen Nilstaudamm und das Wasserkraftwerk bei Assuan errichtet ― so wandte sich Sadat nun verstärkt den Amerikanern zu. Von diesen vermittelt, konnten Ägypten und Israel Frieden schließen.

1977 zeigte Sadat der Welt, aus welchem Holz er geschnitzt war, denn er entschloss sich zu einem beispiellosen Schritt, indem er völlig überraschend nach Israel, in die Höhle des Löwen gleichsam, reiste und in der Knesset eine versöhnliche Rede hielt, was ihn in der arabischen Liga isolierte. Das Jahr darauf folgte, von US-Präsident Carter vermittelt, das in Camp David geschlossene Abkommen Sadats mit dem inzwischen zum israelischen Ministerpräsidenten aufgestiegenen ehemaligen Terroristen Menachem Begin. Man schloss Frieden, Israel wurde von Ägypten, dem größten und wichtigsten arabischen Land, diplomatisch anerkannt, der ganze Sinai an Ägypten zurückgegeben. Begin wollte auch den Gazastreifen an Ägypten abtreten, doch Sadat lehnte das Angebot ab. Warum er das tat, darüber kann ich nur spekulieren. Er wollte wohl ohne Not keine Menschen in Ägypten aufnehmen, deren Ziel nach wie vor die Vernichtung des Landes war, mit dem er eben Frieden geschlossen hatte. Aus heutiger Sicht kann man nur bedauern, dass er sich so entschieden hat.

1978 wurde Sadat zusammen mit Begin der Friedensnobelpreis verliehen. 1981, am Jahrestag der Überquerung des Suezkanals durch die ägyptische Armee, wurde Sadat von Gegnern seiner Politik ermordet. An den Trauerfeierlichkeiten nahmen unter anderem die amerikanischen Expräsidenten Carter, Ford und Nixon, der mit Sadat freundschaftlich verbunden gewesene deutsche Bundeskanzler Helmut Schmidt und der französische Präsident Mitterand teil. Wenn man von den Präsidenten des Sudans und von Somalia absieht, erwies kein einziger arabischer Führer dem besonnenen, energischen und mutigen Mann die letzte Ehre. Was soll man nur dazu sagen?

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Was man dazu sagen soll? ― Nun, Präsident Sadat hatte, indem er Frieden mit Israel schloss, die gemeinsame Linie der arabischen Länder verlassen, ihren kleinsten gemeinsamen Nenner gleichsam: die Zerstörung des Staates Israel. Indem sie mit dem Finger auf diesen zeigten und Krokodilstränen ob der armen Palästinenser vergossen, konnten die arabischen Führer Einigkeit demonstrieren, auf der internationalen Bühne an Gewicht gewinnen und von den Schwierigkeiten in den eigenen Ländern ablenken. Man könnte sagen, die Palästinenser wären durch die Politik der arabischen Länder instrumentalisiert worden. Durch Einbürgerung und Integration hätte man den armen Palästinensern, die zum unschuldigen Opfer weltgeschichtlicher Fatalitäten geworden waren, wirksam helfen können. Doch statt ihnen diese Perspektive zu geben, ließ man sie in Lagern leben, wo sie sich zwangsläufig radikalisieren mussten, denn nur als Radikalisierte waren sie für die arabischen Führer und ihre nationalistischen Zwecke zu brauchen. Ihre Wunden sollten daher offengehalten werden und nicht heilen. Eine Ausnahme ist Jordanien, das palästinensischen Flüchtlingen sehr wohl die Staatsbürgerschaft angeboten und auch verliehen hat, wodurch der Druck, den das Flüchtlingsproblem auf Israel ausübte, verringert wurde. Man stelle sich vor, die anderen arabischen Staaten wären dem jordanischen Beispiel gefolgt.

Was den Israelis nach 1948 möglich war, nämlich die Juden, die aus den arabischen Ländern vertrieben wurden, zu integrieren, hätte auch den arabischen Staaten möglich sein müssen, und das umso leichter, als das Verhältnis der Zahl der zu integrierenden Flüchtlinge ― etwa 750.000 sollen es gewesen sein ― zur Bevölkerungszahl der aufnehmenden arabischen Länder klein gewesen wäre. In Israel hingegen musste die damals noch recht kleine Bevölkerung von rund einer Million Menschen einige Hunderttausend Flüchtlinge aufnehmen. Erschwerend kamen im Falle Israels auch noch Mentalitätsunterschiede hinzu, denn der neue Staat war eine europäisch-aschkenasische Gründung, die Flüchtlinge aus den arabischen Ländern aber sephardisch-orientalische Juden.

Ein historisches Beispiel, wie Flüchtlingsströme bewältigt wurden, ist Deutschland. Als im Zweiten Weltkrieg die Rote Armee auf Deutschland vorrückte, mussten Millionen Deutsche aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten ― also aus Ostpreußen, Schlesien und dem Sudentenland ― in das von den Siegern besetzte, am Boden liegende, weil zerbombte Rumpfdeutschland fliehen, unter Zurücklassung ihres gesamten unbeweglichen Besitzes. Und so gibt es seit Kriegsende in den genannten Gebieten keine Deutschen mehr. Man stelle sich den Schmerz eines Bauern vor, der seinen Hof, der seine Felder und Wiesen zurücklassen und mit seiner Familie notdürftig versorgt in einem Barackenlager leben musste. Freilich nicht allzu lange, denn in einer kollektiven Anstrengung haben die Deutschen nicht nur ihr Land wieder hochgebracht, sondern es ist ihnen auch gelungen, diese Flüchtlinge in die deutsche Nachkriegsgesellschaft zu integrieren und so ihre Wunden einigermaßen zu heilen. Wohl trauerten die Geflüchteten ihrer verlorenen Heimat noch Jahrzehnte lang nach, wohl waren ihre Schmerzen noch lange Gegenstand der deutschen Politik, doch zum Zweck der Rückeroberung des Verlorenen instrumentalisiert wurden sie nicht, denn Deutschland stand unter Kuratel. Heute ist das Schicksal dieser unglücklichen Menschen weitgehend vergessen und nur noch Gegenstand der Historie. Wie heißt es doch: Glücklich ist, wer vergisst …


10. Yasser Arafat und die PLO

Doch die Palästinenser konnten, durften nicht vergessen, was man ihnen angetan hatte. Aber statt ihre Wunden zu verbinden und begütigend auf sie einzuwirken, wurden sie zum Spielball der arabischen Politik, und das bis auf den heutigen Tag. Statt ihnen auf die Beine zu helfen, bekamen sie lediglich politische Unterstützung. Auf Initiative des Primus der arabischen Führer, des ägyptischen Präsidenten Nasser, wurde 1964 in Jerusalem die PLO gegründet. Als Dachorganisation aller palästinensischen Gruppierungen sollte sie die Palästinenser in der Welt, insbesondere in der arabischen Liga vertreten, und so zur Keimzelle des künftigen palästinensischen Staates werden. Die stärkste Fraktion in der PLO war damals die Fatah, damals eine Guerillaorganisation, die 1959 in Kuweit ein Mann mitgegründet hatte, der wie kein zweiter für das Verhängnis der Region verantwortlich werden sollte: der Palästinenserführer Yasser Arafat.

Arafat wurde 1929 geboren, vermutlich in Kairo. Das ist insofern unsicher, weil er es liebte, seine Person in Mythen einzuhüllen und über den Ort seiner Geburt immer wieder divergierende Angaben zu machten. Angesichts der vielen Attentate, die auf ihn verübt wurden, muss er wohl mehrere Leben gehabt haben. Als gesichert kann gelten, dass seine Eltern aus angesehenen Jerusalemer Familien stammten und dass er ein entfernter Verwandter des ehemaligen Großmuftis von Jerusalem, Mohammed Amin al-Husseini war; dieser wurde zu seinem Mentor, den er zeitlebens verehrte. Im Krieg von 1948 kämpfte er mit, und zwar als Soldat einer palästinensischen Einheit, die geschlagen wurde und die sich von der ägyptischen Armee verraten fühlte. Nach dem Krieg studierte Arafat in Kairo Elektrotechnik. 1956 nahm er als ägyptischer Soldat am Suezkrieg teil, und zwar als Leutnant und pikanterweise als Sprengstoffexperte. Als ausgebildeter Ingenieur ging er nach Kuweit, wurde ein erfolgreicher Unternehmer und einer der Mitbegründer einer revolutionären Zelle, aus der im Jahr 1959 schließlich die Fatah hervorgehen sollte. Im Jahr 1968 wurde er ihr Vorsitzender.

Von allem Anfang an sahen Arafat und seine Fatah den bewaffneten Kampf als das Mittel an, die palästinensische Unabhängigkeit zu erreichen. Dass dieser Kampf in Form von Terroranschlägen erfolgte, ist die logische Konsequenz aus dieser Sicht, denn wie soll ein totaler militärischer Underdog anders kämpfen als mit Terror?

Ab 1964 führten die Fedaijin der Fatah Terroranschläge auf Israel aus, wobei sie von jordanischem Gebiet aus operierten, hauptsächlich wohl von der damals noch von Jordanien besetzten Westbank. Das änderte sich nach dem Sechstagekrieg von 1967, als die Jordanier von der Westbank vertrieben wurden und diese von Israel besetzt wurde. Damals gingen viele Palästinenser über den Jordan, unter ihnen auch die PLO und die Fatah.

1968 unternahmen die Israelis, die es verständlicherweise leid waren, die vielen Nadelstiche, die ihnen die Fatah schon zugefügt hatte, noch länger unbeantwortet hinzunehmen, eine Kommandoaktion auf die am Ostufer des Jordan gelegene Stadt Karame, in der sich ein mit 30.000 Palästinensern besetztes Lager befand, das von der UNHCR, der Flüchtlingsorganisation der UNO, betreut wurde.

Die Kommandoaktion war ziemlich groß geraten, denn es waren 15.000 israelische Soldaten an ihr beteiligt, was von den Jordaniern bemerkt und als möglicher Angriff auf ihre Hauptstadt Amman gedeutet wurde. Also setzte das Land Teile seiner Armee in Bewegung und unterstützte die Kämpfer der Fatah bei der Verteidigung des UNHCR-Lagers. Die Israelis setzten über den Jordan und zerstörten nach erbittert geführten Kämpfen, in denen viele Kämpfer, aber naturgemäß auch viele Unbeteiligte, getötet wurden, das Lager. Mehr jedoch erreichten die Israelis nicht. Sie wollten auch nicht mehr erreichen, denn sie zogen sich, nachdem sie das Lager zerstört hatten, hinter den Jordan zurück. Das ermöglichte den arabischen Verteidigern, den Ausgang des Gemetzels als einen arabischen Sieg auszugeben. Arafat, der Fersengeld gegeben hatte, als es brenzlig wurde, und rechtzeitig geflohen war, wurde deshalb als Held der Stunde gefeiert. Mit diesem Prestige an politischem Kapital konnte er schon bald die Macht in der PLO übernehmen, denn er wurde ein knappes Jahr später zu ihrem Chef gewählt, ein Amt, das er bis zu seinem Tod im Jahr 2004 innehaben sollte.

Mit Arafat an der Spitze verschob sich der politische Schwerpunkt der PLO, und zwar weg vom Politischen und hin zum Militärischen. Erklärtes Ziel der PLO wurde der Kampf um die Errichtung eines palästinensischen Staates, der das gesamte ehemalige britische Mandatsgebiet umfassen sollte, also Israel, das Westjordanland, aber auch Jordanien. Entsprechend änderte sich das Auftreten der PLO, denn sie gebärdete sich in ihrem Gastland Jordanien wie ein Staat im Staate. Dass dies der jordanischen Regierung unter König Hussein nicht gefallen konnte, ist klar. Als auch noch die marxistisch-leninistische Demokratische Front zur Befreiung Palästinas ein Attentat auf den König verübte, war das Maß voll und die Tage Arafats und seiner PLO in Jordanien gezählt. Es kam zum Krieg der PLO mit der jordanischen Armee, der unter dem Namen „Schwarzer September“ bekannt wurde. Als die Jordanier am 17. September einen vom ägyptischen Präsidenten Nasser vermittelten Waffenstillstand zustimmten, hatten sie große Teile des jordanischen Territoriums wieder unter ihre Kontrolle gebracht. Doch erst im Sommer des nächsten Jahres gab die PLO endgültig auf. Der Krieg kostete einigen Tausend Palästinensern das Leben; darunter waren nicht nur Kämpfer, sondern, wie oft im Nahen Osten, auch zahlreiche Zivilisten. Arafat floh in die Arme Präsident Nassers nach Kairo, seine PLO wurde vertrieben und ging in den Libanon, der von da an ihre neue Operationsbasis werden sollte.

Der jordanische Bürgerkrieg löste große Schockwellen in der arabischen Welt aus. Wenige Tage nachdem er den erwähnten Waffenstillstand vermittelt hatte, starb überraschend Gamal Abdel Nasser an einem Herzinfarkt. Ist es abwegig anzunehmen, dass ihm das Herz brach, als er zusehen musste, wie sich Araber, die er vereinigen wollte, untereinander blutig bekämpften? Die Schockwellen erreichten auch andere arabische Länder. In Syrien, das am Bürgerkrieg auf der Seite der PLO teilgenommen hatte, kam es zu einem Machtwechsel, denn Hafiz al-Assad wurde neuer syrischer Präsident. Und im Irak konnte Saddam Hussein seinen Rivalen um die Macht ausschalten. Bald würde er sich zum unumstrittenen Herrscher des Landes aufschwingen können.

Nachzutragen wäre noch ein für Deutsche oder Deutschsprachige interessantes Detail. Im Sommer 1970, also wenige Monate vor dem Ausbruch des jordanischen Bürgerkrieges, hielten sich etwa zwanzig Angehörige der RAF, also der Rote-Armee-Fraktion, in einem jordanischen Camp der Fatah auf und erhielten dort ihre Grundausbildung in den Fertigkeiten, die im Guerillakampf von Nutzen sind. Unter denen, die sich einschlägig ausbilden ließen, waren die Spitzen der RAF, also Bader, Meinhof, Mahler und Ensslin.

Yasser Arafat: Man könnte ihn einen Rodeoreiter nennen, der es verstand, sich immer auf dem Rücken seines ungesattelten Reittieres zu halten, ungeachtet der Bocksprünge, die dieses ausführte. Das ist nur möglich, wenn der Reiter auf diese Sprünge nicht nur reagiert, sondern sie auch rechtzeitig antizipiert. Ohne diese Fähigkeit wäre er, wie viele Revolutionäre vor ihm, bei vielen Gelegenheiten vom Untier, das er ritt, abgeworfen worden und hätte sich den Hals gebrochen. Dass er den palästinensischen Karren in die schier ausweglose Situation, in der sich dieser heute befindet, gefahren hat, liegt daher auf der Hand. Er hätte Kompromisse mit Israel machen müssen, um zu einer tragfähigen Lösung zu kommen. Das hat er in seinen späteren Jahren zwar mehrere Male zu tun versucht, seine Zugeständnisse aber sofort wieder zurückgenommen, als er den Bocksprung seiner Basis bemerkte. Wie soll man Kompromisse machen, wenn es innerhalb der eigenen Reihen Kräfte gibt, die jeden Kompromiss, und sei er noch so weise, als Verrat brandmarken? Und Verrat ist nicht nur im Nahen Osten ein tödlicher Vorwurf. Will man ein Bild für die PLO? Nun, man kann sie mit der Hydra aus der griechischen Mythologie vergleichen, der für jeden Kopf, den man ihr abschlägt, deren zwei nachwachsen. David kann zwar den Goliath besiegen, nicht aber die Hydra. Das konnte nur Herakles …

Ich habe einst folgende Geschichte gelesen, die, sollte sie nicht wahr sein, zumindest schön erfunden ist. Als die Mongolenfürsten im Jahr 1251 einen neuen Großkhan wählen mussten ― der alte Großkhan war gestorben―, entschieden sie sich für Möngke, und zwar deshalb, weil sie diesem mehr als den anderen Kandidaten die Fähigkeit zutrauten, die Leidenschaften des mongolischen Volkes sowohl zu wecken, als auch, wenn es nötig sein sollte, zu dämpfen. Die Leidenschaften der Palästinenser zu wecken: Das verstand Arafat in hohem Maße; sie auch zu dämpfen, wenn das geboten gewesen wäre, hingegen nicht. . .

Warum gingen Arafat und seine PLO nach dem Schwarzen September in den Libanon und nicht etwa nach Ägypten oder Syrien? Die Erklärung ist einfach: Abgesehen vom Umstand, dass man sie dort gar nicht haben wollte ― wer will schon so schwierige Gäste ―, wollte wohl auch die PLO nicht. In Ägypten oder Syrien wäre sie ja nur eine vernachlässigbare Größe gewesen, denn diese Länder hatten eine gefestigte staatliche Struktur, besonders im Militärischen. Der Libanon hingegen war zersplittert und militärisch schwach, er ist es bis heute. Nicht von Ungefähr konnte er sich weder am Krieg von 1948 noch an dem von 1967 beteiligen. Gegen das Eindringen der PLO konnte sich das Land daher nicht wehren. Bis zum Eintreffen der PLO wurde das Land als die Schweiz des Orients angesehen. Heute liegt der Libanon in Trümmern.

Von ihrem libanesischen Refugium aus unternahm die PLO weiterhin das, was damals ihre Kernkompetenz ausmachte, nämlich Terroranschläge; mit diesen sorgte sie dafür, dass der vergesslichen Weltöffentlichkeit die ungelöste Palästinafrage gegenwärtig geblieben ist. Jedes Mal, wenn ich in ein Flugzeug steige und mich über die entwürdigenden Prozeduren beim Einchecken ärgere, ärgere ich mich im Grunde genommen über Abu Ammar, also über Yasser Arafat, denn diese Prozeduren sind die Reaktion auf die vielen Flugzeugentführungen, die auf das Konto der PLO gehen.

Der spektakulärste derartige Anschlag war wohl der, den die radikale Fraktion der PLO „Schwarzer September“ auf die israelischen Teilnehmer an den olympischen Spielen im Jahr 1972 in München verübte. Er endete mit einer Katastrophe, denn bei dem Versuch der deutschen Sicherheitskräfte, die von den Terroristen als Geiseln genommenen Mitglieder des israelischen Olympiateams zu befreien, kamen 15 Menschen ums Leben, darunter neun Geiseln und ein bayrischer Polizist.

Die Forderungen der Geiselnehmer an die israelische Regierung, alle in Israel gefangenen Palästinenser freizulassen, hatte diese abgelehnt und den Deutschen grünes Licht für ihren Befreiungsversuch gegeben. Das erste Mal wurde sichtbar, was die Politik aller israelischen Regierungen sein sollte, nämlich Erpressungen auf keinen Fall nachzugeben und lieber den Tod von Geiseln in Kauf zu nehmen, als sie lebend in den Händen von Terroristen zu wissen.

Diese Härte hatte die deutsche Regierung unter Willy Brandt noch nicht, denn als wenige Wochen später ein anderes palästinensisches Kommando ein deutsches Flugzeug entführte und die Freilassung der drei überlebenden Terroristen von München forderte, gab sie nach und ließ die drei ziehen. Erst fünf Jahre später unter dem Bundeskanzler Helmut Schmidt hatte sie die israelische Position für sich adoptiert, denn als damals eine marxistisch-leninistische Fraktion der PLO eine Lufthansa-Maschine nach Mogadischu entführte und die Freilassung der in einem deutschen Gefängnis einsitzenden RAF-Terroristen forderte, ließ sie die Maschine von einer inzwischen aufgestellten Spezialeinheit stürmen und befreite die Geiseln, ohne dass eine von ihnen ums Leben gekommen wäre. Die Terroristen, die freigepresst werden sollten, waren ausgerechnet jene RAF-Mitglieder, die sich 1970 in einem PLO-Lager in Jordanien ausbilden hatten lassen, also Brüder und Schwestern der Flugzeugentführer im Geiste. Als bekannt wurde, dass der Versuch, sie zu befreien, gescheitert war, begingen sie Selbstmord. Zumindest ist das die offizielle Version, denn die Simultanität der Suizide erstaunt einen nüchternen Beobachter schon. Der Verdacht, dass man dabei nachgeholfen habe, um ein Sicherheitsrisiko aus der Welt zu schaffen, ist daher nicht unbegründet. Erfahren freilich wird man das wohl nie.

Die Härte der deutschen Regierung hatte die österreichische unter Bruno Kreisky nicht. Denn als wenig später ein internationales Terrorkonsortium in Wien das Gebäude der OPEC überfiel und Geiseln nahm, gab sie den Terroristen nach und ermöglichte ihnen und ihren ausländischen Geiseln die Ausreise ins Land ihrer Wahl; soweit die Geiseln österreichische Staatsbürger waren, wurden sie von den Terroristen freigelassen. Als Ehrenrettung für das Handeln der Österreicher muss freilich erwähnt werden, dass sich unter den Geiseln mehrere OPEC-Minister befanden; ein hartes Vorgehen Kreiskys hätte zu unabsehbaren diplomatischen Verwicklungen geführt und Wien als Ort der Begegnung schwer beschädigt. Der Druck auf den leidenschaftlichen Außenpolitiker Kreisky muss deshalb enorm gewesen sein.

Ein skurriles Detail zu erwähnen, kann ich mir nicht verkneifen. Die Abreisenden wurden am Flugplatz vom österreichischen Innenminister per Handschlag verabschiedet. Einen warmen ministeriellen Händedruck erhielt auch der Anführer der Terroristen, der unter dem Namen „Carlos“ internationale Bekanntheit erlangte. Ungeklärt ist, wer hinter dem Anschlag steckte. Wahrscheinlich war es nicht die PLO, sondern Libyen.


11. Die PLO im Libanon und der Krieg von 1982

Die PLO wich also 1970 in den Libanon aus; der Bürgerkrieg, den sie in Jordanien ausgelöst hatte, sollte ihr bald folgen. Die Bevölkerung des Libanon war und ist sehr heterogen zusammengesetzt, denn es gibt in dem Land nicht weniger als 18 anerkannte Religionsgemeinschaften. Noch Mitte des vorigen Jahrhunderts stellten christliche Gruppen die Mehrheit der Bevölkerung des Libanon dar, heute sind bereits zwei Drittel der Bevölkerung islamisch, wobei sich die beiden größten Gruppen, die Sunniten und die Schiiten, die Waage halten.

Diese Zersplitterung des Landes ist die Erklärung dafür, dass sich das Land an den Kriegen der Araber mit Israel nicht beteiligt hat; der einzige Krieg, den ein derartiges Land führen kann, ist der Bürgerkrieg. Und dazu sollte es bald nach dem Eintreffen der PLO kommen. Dass die Präsenz der PLO der Einheit des Landes nicht förderlich war, liegt auf der Hand, denn bald schon lieferten sich die Kämpfer der PLO Gefechte mit diversen libanesischen Milizen, was die ohnehin schon großen Spannungen zwischen den verschiedenen Teilen der libanesischen Bevölkerung unheilvoll verstärkte, die PLO verhasst machte und 1975 einen Bürgerkrieg auslöste, der bis 1990 dauern sollte.

Interventionen der Nachbarn sollten bald folgen. 1976 marschierte Syrien, von der instabilen Lage im Nachbarland beunruhigt, mit 30.000 Mann in den Libanon ein und besetzte das Gebiet nördlich der Linie Beirut-Damaskus, was von Israel und von den USA im Hintergrund zunächst hingenommen wurde. Das Gebiet südlich dieser Linie kontrollierte weiterhin die PLO.

Von ihrer neuen Operationsbasis aus unternahm die PLO immer wieder Anschläge auf israelisches Gebiet, welche Vergeltungsangriffe der israelischen Armee nach sich zogen. Nach dem blutigsten dieser Anschläge Anfang März 1978, bei dem 37 Israelis getötet und über 70 verletzt wurden, drang die israelische Armee mit dem Ziel, die PLO zu zerschlagen, mit großer Macht in den Südlibanon ein und besetzte das Gebiet südlich des Litani-Flusses. Bei den Kämpfen wurden ein- bis zweitausend PLO-Kämpfer getötet und unter der Zivilbevölkerung eine Flüchtlingswelle ausgelöst. Als sich die Israelis auf internationalen Druck hin zurückziehen mussten, überließen sie ihre Stellungen einer christlichen libanesischen Miliz, welche sie bei ihrer Aktion unterstützt hatte. Besonders aus den USA war der diplomatische Druck stark, denn unter dem damaligen Präsidenten Carter war man gerade im Begriff, zwischen Ägypten und Israel das Camp David Abkommen auszuhandeln; Störungen wie die Besetzung des Südlibanon konnte man vor diesem Hintergrund nicht brauchen.

*

Es ist nicht die Aufgabe dieser Schrift, die Konvulsionen wiederzugeben, in denen sich der Libanon gewunden hat und die aus ihm, der ehemaligen Schweiz des Nahen Ostens, das gemacht haben, was er heute ist: einen failed state. Erwähnt werden soll nur noch der Libanonkrieg von 1982, weil er zum Ende der Präsenz der PLO im Land geführt hat.

Am Vorabend des Waffenganges von 1982 war die Lage im Nahen Osten verworren wie selten zuvor. In Washington hatte der kalte Krieger Ronald Reagan den menschenfreundlichen Jimmy Carter als Präsidenten der USA abgelöst. In Ägypten hatten die Moslembrüder Präsident Sadat ermordet, und der Irak war in einen mörderischen Krieg gegen den Iran verwickelt. Was Syrien betrifft, so hatte sich das Land unter Präsident Assad an die damals noch existierende Sowjetunion angenähert und war von ihr bewaffnet worden. Seit 1976 standen, wie schon erwähnt, syrische Truppen im Libanon, was von den Israelis hingenommen wurde, weil sich die syrische Militärpräsenz auf den Norden des Landes beschränkte, während sich in dem an Israel grenzenden Süden des Landes die PLO mit einer christlichen Miliz, der mit Israel verbündeten Südlibanesischen Armee (SLA), um die Kontrolle des Gebietes stritt.

Auch in Syrien selbst war die Lage alles andere als stabil. An der Grenze zu Jordanien knisterte es, im Land waren die Moslembrüder aktiv und stellten die Herrschaft der Baath-Partei des Präsidenten in Frage. Als Syrien zu ihrer Unterdrückung einen Teil seiner im Libanon stationierten Truppen abzog, glaubten die christlich-libanesischen Phalange-Milizen ihre Stunde für gekommen und überfielen die im Land verbliebenen Syrer. Als die Syrer zum Gegenangriff übergingen, riefen die Milizen die Israelis zu Hilfe. Diese ließen sich nicht lange bitten und schossen zwei syrische Hubschrauber ab, was von den Syrern mit der Aufstellung von Flugabwehrraketen sowjetischer Bauart beantwortet wurde. Als nach einer Serie von Attentaten auf israelische Diplomaten auch noch an die hundert Katjuscha-Raketen auf Galiläa abgefeuert wurden, war das Maß voll, der casus belli für Israel gegeben. Im Libanon stationiere Flugabwehrraketen konnten von den Israelis nicht hingenommen werden, denn das hätte die Kernkompetenz ihrer Armee, nämlich Feinde von der Luft aus zu erledigen, in Frage gestellt. Mit 76.000 Mann und weit über tausend Panzern drangen sie, teils von Galiläa aus, teils indem sie Truppen an der libanesischen Küste landeten, am 4. Juni in den Süden des Libanon ein und marschierten nach Norden. Auf ihren Vormarsch wurden sie entlang der Küste von den Kämpfern der PLO erbittert bekämpft. Als die israelische Armee auf die Höhe der Linie Beirut-Damaskus vorgedrungen war, stieß sie auf die Stellungen der Syrer, vermied es aber zunächst, diese anzugreifen, denn nach israelischer Lesart galt der Militärschlag ja der PLO und ihrem Terror, nicht aber Syrien. Mit der israelischen Übermacht konfrontiert, verhielten sich die Syrer zunächst ruhig.

Am vierten Tag der Operation erhielt die israelische Armee jedoch von ihrer Regierung grünes Licht, griff die Syrer massiv an und fügte ihnen eine schwere Niederlage zu. Auf Druck der beiden Supermächte bot Israel den Syrern zwei Tage später einen Waffenstillstand an, den diese annahmen, wodurch sie ihre militärische Niederlage kaschieren konnten.

Die Kämpfe mit der PLO im Raum Beirut aber gingen weiter, ein zwei Tage später ausgerufener Waffenstillstand erwies sich als brüchig. Beirut wurde von der israelischen Armee eingeschlossen, aber auf amerikanischen Druck hin von ihr nicht betreten. In der Stadt selbst lieferten sich die PLO mit christlichen Milizen erbitterte Kämpfe, in die auch die israelische Luftwaffe eingriff. Die Folge dieser Kämpfe waren starke Zerstörungen. Schließlich kam es am 25. Juni auch im Raum Beirut zu einem Waffenstillstand.

Am selben Tag hatte Präsident Reagan seinen Außenminister ausgewechselt. Ziel seiner Politik war es nun, die PLO aus dem Libanon zu entfernen und damit den Grund für die israelische Präsenz im Land aus der Welt zu schaffen. Doch zunächst wollte kein arabisches Land die PLO-Kämpfer aufnehmen. Da die Kämpfe aber immer wieder aufflammten und da sich schließlich Tunesien bereit erklärte, der PLO Asyl zu gewähren, zwangen die USA Israel, die Entsendung einer multinationalen Streitkraft, bestehend aus amerikanischen, englischen französischen und italienischen Soldaten, zu akzeptieren. Diese sollte den Abzug der PLO überwachen. Bis Anfang September verließen über 10.000 PLO-Kämpfer Beirut in Richtung Tunis, wo die PLO ihr neues Hauptquartier einrichtete. Damit war die Mission der multinationalen Streitkräfte erfüllt, und sie konnten abziehen.

Sie sollten bald wieder kommen, denn sowohl die Israelis als auch die Syrer weigerten sich, dem von den USA geforderten Abzug aus dem Libanon nachzukommen. Als der neugewählte libanesische Präsident einem Bombenattentat zum Opfer fiel, drangen israelische Truppen in Beirut ein und umstellten die Flüchtlingslager der Palästinenser. Unter ihren Augen durfte die christliche Phalange-Miliz ihr Mütchen kühlen, denn der ermordete Präsident war einer der ihren gewesen. Die Kämpfer der Phalange drangen in die Flüchtlingslager ein und verübten an den Palästinensern ein Massaker, dem einige hundert, nach anderen Angaben einige tausend Menschen zum Opfer fielen. Daraufhin wurden die multinationalen Truppen nach Beirut zurückbeordert; diesmal sollten sie eineinhalb Jahre im Land bleiben.

Ihres Sieges wurden die Israelis nicht froh, denn das Libanonabenteuer ihrer Armee war innerisraelisch umstritten. Im Gegensatz zu den Kriegen, die man in der Vergangenheit geführt hatte, stand diesmal nicht die Existenz Israels auf dem Spiel. Ministerpräsident Begin, dem man unklare Führung vorwarf, musste das Jahr darauf zurücktreten, wie zuvor schon sein Verteidigungsminister, der alte Haudegen Sharon, den Begin im Libanonkrieg gewähren hatte lassen. Zu sehr hatte man die Geduld der Amerikaner strapaziert, welche die Israelis zwar unterstützten, aber nicht so bedingungslos und die eigenen Interessen missachtend wie heute. Vor allem sorgte man sich um die Einhaltung des in Camp David ausgehandelten Friedensvertrages, denn Präsident Sadat war tot, und der Krieg im Libanon hätte leicht zu einem Kurswechsel der ägyptischen Politik führen können.

Israel war die PLO zwar los ― aus ihrem tunesischen Exil würde sie in Zukunft keine Raketen mehr auf israelisches Territorium abschießen können. Gewonnen war dadurch aber nicht viel, denn statt der PLO bekam man es bald mit einem anderen, womöglich gefährlicheren Gegner zu tun, der vom Iran unterstützten schiitischen Hisbollah. Bedingt durch das Machtvakuum, das die PLO im Libanon hinterlassen hatte, erstarkte diese und wurde statt jener zur Speerspitze der libanesischen Israelhasser. Zu vermerken ist noch, dass die israelische Armee noch Jahre im Südlibanon blieb.


12. Ben Gurion und de Gaulle

Bevor ich die Geschichte Israels nach 1985 erzähle, will ich eine kurze historische Reminiszenz einflechten, die strukturell dem ähnelt, was nach 1985 in Israel geschehen sollte.

Im Jahr 1960 besuchte der damalige israelische Ministerpräsident David Ben Gurion den französischen Präsidenten Charles de Gaulle in Paris. Causa prima der französischen Politik war damals der blutige Krieg in Algerien. Algerien war noch immer eine französische Kolonie, doch es strebte die Unabhängigkeit an. In einem erbittert geführten Kleinkrieg kämpften die algerischen Nationalisten gegen die im Land stationierten Einheiten der französischen Armee und gegen die mit ihr verbündeten Siedlerorganisationen. Die Armee, unzufrieden mit der damaligen Regierung, hatte diese zwei Jahre zuvor in einer Art Putsch gestürzt und die Installierung eines Mannes aus ihren Reihen als französischen Präsidenten durchgesetzt. Dieser Mann war General Charles de Gaulle.

Ben Gurion entwickelte seinem Gastgeber einen Plan zur Befriedung Algeriens. Seiner Meinung nach, so erklärte er dem französischen Präsidenten, müsse Algerien geteilt werden. Die fruchtbare Küstenregion müsse französisch bleiben, die Araber aber in den unwirtlichen Süden des Landes abgedrängt werden. Zu diesem Zweck müsse die Zahl der bereits jetzt in Algerien siedelnden Franzosen im Zuge einer französischen Alija um eine Million neuer Siedler vergrößert werden. De Gaulle, der sich innerlich schon zum Frieden durchgerungen hatte und keinen permanenten Krieg wollte, entgegnete seinem rabiaten Gast: „Mon Dieu, Sie versuchen ja, in Afrika ein zweites Israel zu gründen.“

Ben Gurion konnte nicht wissen, dass de Gaulle damals schon fest entschlossen war, Algerien in die volle Unabhängigkeit zu entlassen. Die Alternative der Einstaatenlösung, also Algerien an Frankreich anzuschließen und allen Algeriern die französische Staatsbürgerschaft zu verleihen, hatte de Gaulle verworfen, denn das hätte den Charakter der französischen Nation in einer Weise verändert, die ihm nicht behagte. Der Entschluss, Algerien aufzugeben, ist de Gaulle gewiss nicht leichtgefallen, denn als französischem Patrioten schmerzte ihn jede Minderung der Größe Frankreichs. Doch die Zeichen der Zeit zu verkennen und vor dem Notwendigen, das sie erheischte, die Augen zu verschließen: Dazu war er zu groß. Nicht umsonst hat ihn Otto von Habsburg als den eindrucksvollsten Mann bezeichnet, dem er in seinem langen Leben begegnet ist.

Die Reaktion auf die Politik de Gaulles ließ nicht lange auf sich warten. Als Antwort auf sie gründeten Offiziere der in Algerien stationierten französischen Armee die im Untergrund agierende Terrororganisation OAS (Organisation de l’armée secrète), in die auch die militanten Organisationen der Algerienfranzosen, der sogenannten pieds noirs, eingebunden waren. Es kam zu einer gewaltigen Terrorwelle, der rund 2.200 Menschen zum Opfer fielen; 5.000 wurden verletzt. Fast täglich konnte der Knirps, der ich damals noch war, in den Nachrichten das Kürzel OAS vernehmen. Doch der homme de destin, wie Churchill de Gaulle genannt hatte, konnte sich allem Terror zum Trotz am Ende durchsetzen, den Terror beenden und seinem Land den Frieden bringen, trotz zweier Attentatsversuche, die auf ihn verübt wurden. Man setzte sich an den Verhandlungstisch, und als die Algerier einige Forderungen der Franzosen akzeptiert hatten, wurde Algerien 1962 in die Unabhängigkeit entlassen. Der Großteil der französischen Siedler verließ daraufhin das Land und kehrten nach Frankreich zurück.

Die Parallelen zur israelischen Geschichte sind unübersehbar. Was den Franzosen Algerien war, ist den Israelis das Westjordanland: eine Art Kolonie, die sie seit dem Jahr 1967 besetzt halten und auf der sich vermehrt jüdische Siedler breitgemacht haben, welche die autochthone Bevölkerung am liebsten in die jordanische Wüste schicken würden. Hier wie dort hatten sich die Siedler den besten Boden angeeignet, hier wie dort verarmte dadurch die autochthone Landbevölkerung. Auch Israel hatte seinen homme de destin, und zwar in der Person Jitzchak Rabins. Wie de Gaulle hatte auch Rabin in der Armee seines Landes Karriere gemacht, war zu ihrem Generalstabschef aufgestiegen, wechselte anschließend in die Politik, wo er es ebenfalls bis an die Spitze brachte, indem er Ministerpräsident wurde. Auch er, der zunächst ein Hardliner gewesen war, erkannte schließlich die Zeichen der Zeit und nahm in Angriff, was dem Land dringend nottat, nämlich eine friedliche Lösung des Konflikts des israelischen Volkes mit den Palästinensern. Was ihn hingegen von de Gaulle unterscheidet, ist, dass dieser die auf ihn verübten Attentate überlebte, Rabin hingegen von einem israelischen Fanatiker erschossen wurde.

Israel hatte nur einen Rabin, Frankreich nur einen de Gaulle. Man stelle sich vor, wie es gekommen wäre, wenn das Attentat auf de Gaulle gelungen wäre, jenes auf Rabin nicht.

*

Die erwähnten Details der algerisch-französischen Geschichte sind, wie ich glaube, eine gute Illustration der Geschichte Israels ab Jahr 1985. Diese ist geprägt vor allem von den Ereignissen, die sich im Westjordanland oder der Westbank, wie das Westjordanland auch genannt wird, ereignet haben. Rekapitulieren wir: Im Zuge des Krieges von 1948 wurde das Westjordanland, welches gemäß dem Teilungsbeschluss der UNO den Palästinensern gehören sollte, von Jordanien okkupiert. Das war ein Vorgang, den jeder Einsichtige leicht nachvollziehen kann, denn gemäß ihrem Selbstverständnis besetzten die Jordanier mit dieser Okkupation ja nur ein Land, das ihnen von der Weltgemeinschaft ohnehin zugedacht war, denn auch sie fühlten sich als Palästinenser, so gut wie jene Araber, die westlich des Jordans siedelten. Die Trennung der beiden Volksgruppen war eine künstliche, von den Engländern aus politischen Gründen vorgenommene. Das spiegelte sich auch im Namen wider, welchen Jordanien zunächst erhielt, nämlich Transjordanien.

Durch die jordanische Okkupation sollte also das, was von englischer Hand getrennt wurde, vereint werden und zusammenwachsen, was zusammengehörte. Doch dazu ist es nie gekommen, denn das okkupierte Gebiet wurde international nie als Teil des jordanischen Staates anerkannt; über die Gründe dazu kann man spekulieren. Zum einen wollten die arabischen Nachbarstaaten keinen jordanischen Machtzuwachs hinnehmen; zum anderen verfolgten die Zionisten, zumindest die extremen unter ihnen, nach wie vor das Projekt „Großisrael“; mit dem, was ihnen von der UNO zugedacht war, vergrößert um das, was sie 1948 erobert hatten, wollten sie sich nicht begnügen. Eine Vereinigung Jordaniens mit dem Westjordanland hätte ihren nationalen Träumen widersprochen, insbesondere deshalb, weil sich in einem Vereinigten Jordanien beinahe alle heiligen Stätten der Juden befunden hätten. Drittens hätte die Bildung eines gesamtjordanischen Staates auch die Bedeutung der PLO marginalisiert. Diese träumte von einem eigenen Staat und wollte nicht von einem haschemitischen Prinzen regiert werden, wollte vielmehr selbst regieren. Die Ereignisse um den Schwarzen September sprechen für diese Auffassung.

Im Zuge des Krieges von 1967 wurde Jordanien aus dem Westjordanland vertrieben und das Land von Israel besetzt. Das ist es bis heute. Weder wurde es von Israel annektiert, noch an Jordanien zurückgegeben, noch wurde auf der Westbank ein unabhängiger palästinensischer Staat errichtet.

Was die erste Möglichkeit betrifft, so war klar, dass mit einer internationalen Anerkennung der Annexion nicht zu rechnen war. Außerdem hätte sich für Israel die Frage gestellt, was mit den palästinensischen Bewohnern der Westbank geschehen solle. Sie zu vertreiben war vorerst unmöglich, ihnen die israelische Staatsbürgerschaft zu verleihen aber auch, denn das hätte die demographische Zusammensetzung des jungen Staates ungünstig beeinflusst. Einen palästinensischen Staat auf Tuchfühlung zu haben, noch dazu geführt von einer PLO, welche die Vernichtung Israels auf ihre Fahnen geschrieben hatte, schied ebenso aus.

Blieb als letzte Möglichkeit noch die Rückgabe des Westjordanlandes an Jordanien. Das wurde in der Tat erwogen. Das gemäßigte Jordanien unter seinem prowestlichen König als Nachbarn zu haben, schien denkbar, insbesondere als im schwarzen September des Jahres 1970 der jordanische Staat seine Autorität über sein Gebiet wieder hergestellt und die sich wie ein Staat im Staate gebärdende PLO vertrieben hatte.

Retrospektiv gesehen öffnete sich damals für kurze Zeit ein window of opportunity, um zu einer nachhaltigen Friedensordnung zu kommen.

Es wäre so einfach gewesen! Jordanien mit seiner einigermaßen eingeübten Staatlichkeit war zuzutrauen, seine Autorität auch im Westjordanland durchzusetzen. Es hätte dem Westjordanland Autonomie gewähren können, ähnlich der, welche die Südtiroler in Italien haben. Man hätte die versprengten palästinensischen Flüchtlinge des Jahres 1948 sammeln und im Westjordanland ansiedeln können. Dadurch wären diese in einem gewissen Sinn heimgekehrt, zwar nicht in ihre ehemaligen Dörfer, denn diese hatten die Israelis längst geschleift, aber immerhin in eine vertraute Umgebung und zu Menschen ihresgleichen. Durch eine Demilitarisierung des Westjordanlandes hätte man auch den berechtigten Sicherheitsinteressen Israels Genüge tun können. In den Grenzen vor 1967 hatte das Land ja eine sprichwörtliche Wespentaille, denn vom Westjordanland bis zum Mittelmeer sind es stellenweise lediglich zwanzig Kilometer. Die Weltöffentlichkeit aber hätte eine gute Gelegenheit gehabt, tätige Reue für die Fehlentscheidung des Jahres 1947 zu üben, indem man Jordanien bei der Integration der Flüchtlinge wirtschaftlich geholfen hätte. Dass alle mit der hier skizzierten Lösung glücklich gewesen wären, kann nicht behauptet werden, eine Chance zur Normalisierung hingegen wäre sie allemal gewesen, denn in Israel war damals noch die Gründergeneration an der Macht und nicht die Zeloten von heute.

Doch es kam anders. Es kam der Krieg von 1973, und das window of opportunity ging zu; es ist geschlossen bis auf den heutigen Tag, trotz einiger halbaufrichtiger Bemühungen, es wieder zu öffnen.


13. Menachem Begin

1977 wurde der ehemalige Terrorist Menachem Begin Ministerpräsident Israels. Damit war er der erste Ministerpräsident, der nicht der Arbeiterpartei (Mapei/Awoda) angehörte. Er galt als führender Vertreter des sogenannten revisionistischen Zionismus, der auf Wladimir Jabotinsky zurückgeht und dessen Ideenwelt die israelische Politik immer mitbestimmte und heute dominiert. Warum revisionistisch? Nun, was Jabotinsky in erster Linie revidieren wollte, war die von den Engländern vorgenommene Teilung Palästinas in Trans- und Cisjordanien und die Entstehung eines arabischen Staates jenseits des Jordans. Ganz Palästina sollte also offen werden für die jüdische Einwanderung, zwischen Juden und Arabern aber sollte, so Jabotinsky eine eiserne Mauer aus jüdischen Bajonetten errichtet werden. Wie diese Wendung zeigt, war er im Nebenberuf auch ein nicht ganz unbegabter Literat. So übersetzte er beispielsweise die vom Inferno handelnden ersten zehn Gesänge aus Dantes „Göttlicher Komödie“ ins Hebräische ― kein gutes Vorzeichen für den zionistischen Staat, sondern eine Art Menetekel für ihn. Maßgeblichen Anteil hatte sein revisionistischer Zionismus vor allem auf das 1950 beschlossene Einwanderungsgesetz, das jedem Juden auf der Welt das Recht einräumt, sich in Israel niederzulassen und die israelische Staatsbürgerschaft zu erhalten.

Was ein Einstein, was eine Hannah Arendt von Begin und seiner aus der Irgun hervorgegangenen Partei hielten, habe ich weiter oben erwähnt. Andere Juden waren in ihrem Urteil strenger. Erich Fried sah in ihm einen neuen Reinhart Heydrich, Ben Gurion, der es wissen musste, verglich ihn gar mit Hitler. Österreichs Bundeskanzler Kreisky warf Begin vor, ein mieser polnischer Winkeladvokat gewesen zu sein, nachdem er von diesem, ob seines Techtelmechtels mit Arafat, als jüdischer Verräter gebrandmarkt worden war.

Dass ein Mann wie Begin Ministerpräsident werden konnte, zeigt deutlich, welche Veränderungen in der israelischen Gesellschaft seit der Staatsgründung stattgefunden hatten. Zuerst kamen die orientalischen Juden, später die russischen. Mit einem kräftigen Schuss Bosheit könnte man diese Veränderung eine Zelotisierung Israels nennen. Von kurzen Intermezzi abgesehen, lag von da an das Schicksal Israels in der Hand von rechten bis rechtsextrem zu nennenden Regierungen, welche das Land an den Rand des Infernos steuerten, vor dem es jetzt steht.

Israel ist ein winziges Land. Auf Grund seines Geburtenreichtums, seines Einwanderungsgesetzes und weil es aktiv um jüdische Einwanderung wirbt, platzt es heute, da sich die Bevölkerungszahl der zehnten Million nähert, aus allen Nähten. Knapp ist vor allem das kostbare Wasser, was zu ständigen Konflikten mit seinen Nachbarn führt. Eine Vergrößerung seines Staatsgebietes um das Westjordanland wäre vor diesem Hintergrund sehr verführerisch und entspräche dem revisionistischen Zionismus eines Jabotinsky oder eines Begin. Freilich stellt sich das Problem, was mit den zweieinhalb Millionen Palästinensern geschehen soll, die inzwischen im Westjordanland leben. Da man sie, wie bereits festgestellt, im vergrößerten Israel nicht haben will, müsste man die Westbank vor der Annexion ethnisch säubern. Freilich ist das schwierig. Die Palästinenser aus dem Land zu bomben, wie das zurzeit in Gaza geschieht, ist schwer möglich. Gaza, wo größenordnungsmäßig die gleiche Zahl an Arabern lebt (oder lebte) wie im Westjordanland, hat aufgrund der geringen Fläche eine städtische Struktur, ist daher mit relativ wenig Aufwand zu bombardieren. Außerdem bedürfte es eines Vorwands, wie es der Angriff der Hamas am 7. Oktober gewesen ist, um die Untat einigermaßen zu rechtfertigen. Und so blieb (und so bleibt bis auf weiteres) als Mittel der ethnischen Säuberung nur, den Palästinensern des Westjordanlandes das Leben so schwer zu machen, dass sie beginnen, selbst zu gehen.

Das Mittel, das die israelische Führung zu diesem Zweck ergriffen hat, war die Errichtung von Siedlungen für militante ultranationalistische und ultrareligiöse Zeloten im Westjordanland. Diese Siedlungen sind zwar nach internationalem Recht illegal, aber wann hat sich Israel je darum geschert, es sei denn, wenn es zu seinem Vorteil war wie im Jahr 1947? Durch diese Siedlungen wurde der palästinensischen Bevölkerung, die ohnehin unter der israelischen Militärverwaltung stöhnte, das Leben zusätzlich erschwert, ja unmöglich gemacht. Die Siedler haben sich die besten Böden angeeignet, das Land wurde zerstückelt, überall wurden Straßen gebaut, die nur von Siedlern benützt werden dürfen, überall errichtete die israelische Armee Checkpoints, wo reisende Palästinenser schikanös kontrolliert werden. Endlose Wartezeiten an diesen und die langen Umwege, die ein Palästinenser nehmen muss, um den jüdischen Siedlungen nicht zu nahe zu kommen, führen dazu, dass solche Reisen oft ein Vielfaches an Zeit beanspruchen, als es „eigentlich“ notwendig wäre. Das Land ist von der Armee abgeriegelt, ein Palästinenser, der es verlassen möchte, braucht dazu eine Sondergenehmigung. Apartheit also, wohin man blickt, auch in der Rechtsprechung. Wirft ein palästinensischer Jugendlicher einen Stein, wandert er ins Gefängnis; ein Todschlag oder ein Mord, von einem Siedler an einem Palästinenser verübt, bleibt in der Regel ungesühnt.

Die Behandlung der Palästinenser ist nicht neu, denn sie folgt bekannten Mustern aus der Kolonialzeit. Überall dort, wo sich in den einstigen Kolonien Weiße ansiedelten, wurde die einheimische Bevölkerung unterdrückt und von ihren Böden verdrängt. Setzte sich diese zur Wehr, wurde sie eben stärker unterdrückt, und zwar so lang, bis der Widerstand gewalttätige Formen annahm. Dann wurden die Gewalttäter, die ihrem Selbstverständnis nach Freiheitskämpfer waren, als Terroristen gebrandmarkt und brutal gegen sie vorgegangen. Da man ihrer nur schwer habhaft werden konnte, denn sie operierten ja im Geheimen und unter der zivilen Bevölkerung versteckt, glaubte man, berechtigt zu sein, auch gegen diese mit Härte vorgehen zu dürfen. Beispiele wären der Mau-Mau-Aufstand in Kenia gegen die Herrschaft weißer Siedler in den Fünfzigerjahren des letzten Jahrhunderts und seine Unterdrückung durch die englische Kolonialmacht, was Zigtausenden Einheimischen das Leben kostete. Ich wurde auf diese Ereignisse aufmerksam, als sich der neue englische König Charles dieser Tage genötigt fühlte, den Kenianern sein Bedauern für diese schreckliche Episode ihrer Geschichte auszusprechen. Zu nennen wäre auch der etwa zeitgleich erfolgte Befreiungskampf der Algerier gegen die Kolonialmacht Frankreich ― ich erinnere an das Gespräch de Gaulles mit Ben Gurion. Ein weiter zurückliegendes Beispiel ist auch der Aufstand der Zulus in Südafrika und seine Unterdrückung durch die Engländer. Und warum setzte ein Ghandi auf gewaltlosen Widerstand? ― In erster Linie wohl deshalb, weil er, der in seiner südafrikanischen Zeit diesen Unterdrückungsmechanismus kennengelernt und durchschaut hatte, den englischen Kolonialherrn keinen Vorwand für ein gewaltsames Vorgehen gegen die Bevölkerung Indiens liefern wollte.


14. Die Erste und Zweite Intifada

1987 entluden sich die seit 1980 immer stärker werdenden Spannungen zwischen den israelischen Besatzern und der unterdrückten Bevölkerung, indem palästinensische Jugendliche begannen, Steine gegen ihre Peiniger zu werfen. Der daraufhin einsetzende palästinensische Widerstand gegen den Siedlerkolonialismus im Westjordanland ist als erste Intifada, als Krieg der Steine bekannt. In einer leidenschaftlichen Rede vor seinen Parteigenossen, in der er seine Palästinapolitik verteidigte und zu Verhandlungen aufrief, brachte der zurückgetretene österreichische Bundeskanzler Bruno Kreisky die Intifada mit folgenden Worten auf den Punkt: „Gut, sie werfen mit Steinen. Warum sollen sie nicht mit Steinen werfen? Sie haben ja nichts anderes!“

Wie Ghandis gewaltloser Widerstand gegen die englische Kolonialmacht, erwies sich auch der „Krieg der Steine“ als äußerst wirksam. Zunächst glaubte die israelische Regierung, den Aufruhr mit Gewalt unterdrücken zu können. Jitzack Rabin, damals noch Verteidigungsminister, rief die Armee auf, mit Macht, Kraft und Prügel die Ordnung wieder herzustellen. Steine werfenden Jugendlichen, die vielfach noch Kinder waren, wurden von den Soldaten Hände und Beine gebrochen. Trotz der Aufforderung, Schüsse auf Kinder zu vermeiden, erschoss die israelische Armee 106 Kinder ― ein veritables PR-Desaster für das Land. Um weiterschießen zu können, war die israelische Armee daher genötigt, Gummimunition zu verwenden, welche in der Regel keine tödlichen Verletzungen zur Folge hatte.

*

1990 ging es im Nahen Osten wieder einmal hoch her. Nachdem der Irak unter Saddam Hussein im Jahrzehnt davor einen blutigen Krieg gegen den Iran geführt hatte ― dieser war durchaus im Interesse der USA gelegen ―, fiel er 1990 in Kuweit ein, besetzte das Land und verletzte damit amerikanische Interessen. Die sogenannte Brutkastenlüge als Vorwand nützend, zogen die Amerikaner unter ihrem damaligen Präsidenten George Bush Senior ein Jahr später in den Krieg und vertrieben die Iraker wieder aus Kuweit. Das fügte der Tragödie der palästinensischen Flüchtlinge ein weiteres schmerzhaftes Kapitel hinzu, denn in Kuweit lebten vor dem Einmarsch des Irak 450.000 Palästinenser, die in der aufgrund der Erdöleinnahmen boomenden Wirtschaft des Landes als eine Art Gastarbeiter beschäftigt waren. Doch da sie sich mit dem Irak solidarisiert, sich zu ihrem Gastland also illoyal verhalten hatten, wurden sie nach dem Sieg der Amerikaner aus Kuweit vertrieben.

1992 wurde Jitzchack Rabin ein zweites Mal israelischer Ministerpräsident, in Amerika wurde Bill Clinton zum Präsidenten der USA gewählt. Der Wechsel an den Spitzen der beiden Staaten hatte einen neuen Versuch zur Folge, das leidige palästinensische Problem zu lösen, das sich durch die Vertreibung so vieler Menschen aus Kuweit weiter verschärft hatte. Beide Staaten erinnerten sich des alten, inzwischen ― nicht zuletzt durch die Bemühungen eines Bruno Kreisky ― ein wenig geläuterten Rottenmeisters Yasser Arafat und seiner PLO. Er und seine engsten Getreuen saßen, von den Ereignissen in Palästina weitgehend isoliert, nach wie vor in ihrem tunesischen Exil, also weit vom Schuss, und hatten auf die Intifada kaum Einfluss.

Clinton, der wie Jimmy Carter der demokratischen Partei angehörte, suchte den außenpolitischen Erfolg. In der Absicht, etwas Ähnliches zustande zu bringen wie es Carter mit dem Camp-David-Abkommen gelungen war, begann er, zwischen Israel und den Palästinensern zu vermitteln.

Die diplomatischen Bemühungen, zu einer friedlichen Lösung des Palästinenserproblems zu gelangen, werden als Friedensprozess bezeichnet. Warum diese Bezeichnung? ― Nun, sie trägt dem Umstand Rechnung, dass es unmöglich ist, einen Staat ― schon gar nicht den der Palästinenser ― von heute auf morgen zu errichten, sondern dass es dazu vor allem eines braucht: Zeit. Demnach sollte den im Westjordanland und im Gazastreifen lebenden Palästinensern zunächst eine gewisse befristete Autonomie eingeräumt werden. In dieser Zeit sollten sie die elementaren Strukturen, die für einen Staat erforderlich sind, entwickeln und ihre Friedensfähigkeit unter Beweis stellen. Schon dass man Arafat und seine PLO, die gemäß ihrer Charta nach wie vor die Vernichtung Israels als Ziel hatte, als Verhandlungspartner akzeptieren musste, zeigt, wie weit das Westjordanland und Gaza von einer entwickelten Staatlichkeit noch entfernt waren.

Der Beginn des Friedensprozesses waren in Oslo abgehaltene Geheimverhandlungen. Deshalb werden die darauffolgenden Abkommen auch als Oslo 1 und Oslo 2 bezeichnet, obwohl beide in Washington unterzeichnet wurden. Im September 1993, also schon im ersten Jahr der Präsidentschaft von Bill Clinton, wurde vom israelischen Außenminister Shimon Peres und dem designierten Außenminister der PLO, Mahmoud Abbas, im Beisein von Rabin, Arafat und Clinton Die Prinzipienerklärung über die vorrübergehende Selbstverwaltung des Westjordanlandes und Gazas unterzeichnet, später kurz Oslo 1 genannt. Das Bild, auf dem sich Arafat und Rabin die Hände reichen, ging um die Welt. Man atmete auf und schöpfte Hoffnung. Der erste Meilenstein auf dem Weg zum Frieden und zum eigenständigen palästinensischen Staat war erreicht. Zwar gab es noch genügend Stolpersteine, doch war man angesichts des guten Willens beider Seiten zuversichtlich, sie aus dem Weg räumen zu können. Sichtbare Zeichen dieser Hoffnung waren das Verebben der Intifada und die Verleihung des Friedensnobelpreises an Rabin, Peres und Arafat Ende 1994.

Oslo 1 war, wie gesagt, eine Prinzipienerklärung, die einer weiteren Konkretisierung bedurfte. Wichtige Fragen waren zum Beispiel die Modalitäten des Rückzuges der israelischen Armee, vor allem aber, was mit den inzwischen entstandenen Siedlungen im Westjordanland geschehen sollte. Im September 1995 waren die diesbezüglichen Verhandlungen soweit gediehen, dass man sich zur Unterzeichnung von Oslo 2 treffen konnte, und zwar wieder in Washington. Diesmal unterzeichneten nicht die Außenminister, sondern die Chefs persönlich, also Rabin und Arafat, und zwar unter den Auspizien von Bill Clinton und im Beisein des ägyptischen Staatspräsidenten Mubarak und Jordaniens König Hussein. Wie Ägypten unter Sadat hatte inzwischen auch Jordanien seine Beziehungen zu Israel normalisiert. Ein weiterer Meilenstein im Friedensprozess war zurückgelegt, doch bei der Vertragsunterzeichnung trug Arafat wie immer das nach den Konturen Gesamt-Palästinas drapierte Kopftuch der Palästinenser ― ein unheilvolles Vorzeichen.

Das Unheil nahm bald seinen Lauf, denn keine zwei Monate später war Jitzack Rabin tot, ermordet von einem israelischen Fanatiker. Er wurde in Jerusalem begraben, im Beisein von König Hussein, der eine bewegende Trauerrede hielt. Arafat betrat nach Jahrzehnten wieder israelischen Boden und stattete Rabins Witwe einen Kondolenzbesuch ab.

Mit Rabins Ermordung war der Friedensprozess zwar nicht tot, denn Peres, sein Nachfolger als Ministerpräsident, setzte ihn fort. Doch allzu populär scheint er in Israel nicht gewesen zu sein, denn bei den Wahlen von 1996, also ein Jahr darauf, gewann ein von der rechten Likud-Partei angeführtes Bündnis die Mehrheit in der Knesset, und Benjamin Netanjahu wurde zum ersten Mal in seiner langen Politikerkarriere israelischer Ministerpräsident ― ein unheilvolles Vorzeichen auch das. Von einem israelischen Siedlungsbau in Ostjerusalem und von diversen Attentaten der Palästinenser konterkariert, geriet der Friedensprozess ins Stocken. Wieder ergriff Bill Clinton die Initiative, zitierte Netanjahu und Arafat nach Wye in der Nähe von Washington und ließ die beiden ein Abkommen unterzeichnen, in dem sich diese verpflichteten, in der Umsetzung dessen fortzusetzen, was vor drei Jahren im Oslo 2-Vertrag festgeschrieben wurde. Bei der anschließenden Abstimmung in der Knesset stimmten 75 der insgesamt 120 Abgeordneten für die Annahme des Vertrages. Da die Gegenstimmen und die Stimmenthaltungen hauptsächlich aus Netanjahus Koalition kamen, verlor seine Regierung die Mehrheit und zerbrach.

Hoffnung, dass doch noch alles gut werden könnte, schöpfte die Welt, als 1999 mit Ehud Barak wieder ein Mitglied der Arbeiterpartei Ministerpräsident wurde. Präsident Clinton, dessen Amtszeit sich ihrem Ende näherte, ergriff ein letztes Mal die Initiative und lud (oder zitierte) im Sommer des Jahres 2000 Barak und Arafat nach Camp David, dem symbolträchtigen Ort, wo seinerzeit schon Sadat und Begin Frieden geschlossen hatten. Im Zuge der Verhandlung unterbreitete Barak sein Angebot, gemäß dem etwa 90 Prozent der Fläche des Westjordanlandes Gebiet des ins Auge gefassten palästinensischen Staates werden sollte, ein Angebot, das viele für großzügig hielten, andere jedoch für unzureichend. Strittig war vor allem der künftige Status von Ostjerusalem, aber auch, was mit den vielen, das Land zerschneidenden israelischen Siedlungen geschehen sollte, sowie die Verteilung des knappen Gutes Wasser aus dem Jordanfluss. Außerdem hätte Israel nach wie vor die Außengrenzen des neuen Staates kontrolliert, was es einem Palästinenser unmöglich gemacht hätte, seinen Staat zu verlassen, ohne einen israelischen Checkpoint passieren zu müssen.

Man verhandelte vierzehn Tage lang, ohne zu einem Ergebnis zu kommen. Resigniert warf Clinton am Ende der Verhandlungen Arafat vor, zu allem nein gesagt und keinen einzigen konstruktiven Vorschlag gemacht zu haben. Auf den Punkt brachte es ein arabischer Diplomat, der sinngemäß sagte, die arabische Seite hätte bei jeder Verhandlung zu allem, was die Gegenseite auf den Tisch gelegt hatte, nein gesagt; später, als man sich durchgerungen hatte und bereit war, den Vorschlag der Gegenseite doch zu akzeptieren, lag er nicht mehr auf dem Tisch. Die Weisheit eines Chaim Weizmann, der 1937 zu dem von der Peel-Kommission vorgelegten Teilungsplan gesagt hatte, die Juden wären dumm, ihn nicht zu akzeptieren, selbst wenn das ihnen zugestandene Gebiet die Größe eines Tischtuches hätte: Diese Weisheit hatte Arafat nicht. Freilich ist es sehr leicht, Arafat zu kritisieren. Doch will ich versuchen, auch ihm Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, indem ich zitiere, was David Ben Gurion einmal gesagt haben soll:

Wenn ich ein arabischer Führer wäre, würde ich nie einen Vertrag mit Israel unterschreiben. Es ist normal; wir haben ihr Land genommen. Es ist wahr, dass es uns von Gott versprochen wurde, aber wie soll sie das interessieren? Unser Gott ist nicht ihr Gott. Es gab Antisemiten, die Nazis, Hitler, Auschwitz, aber war es ihre Schuld? Sie sehen nur eine Sache: Wir kamen und haben ihr Land gestohlen. Warum sollten sie das akzeptieren?

Hat Ben Gurion das tatsächlich so gesagt? Hat er tatsächlich mit diesen wenigen Worten die israelische Geschichte resümiert und auf den Punkt gebracht? Die Größe, derer es bedarf, um eine solche Aussage zu machen, hatte er jedenfalls. Er war kein Fanatiker, sondern jemand, der für seine Vision kämpfte und niemanden über seine Absichten im Unklaren ließ.

Zwei Monate nach dem Scheitern der Verhandlungen in Camp David ging Ariel Scharon, der sich in jungen Jahren als Stoßtruppkommandant einen Namen gemacht hatte und in der israelischen Armee zum General aufgestiegen war, bevor er in die Politik ging und mehrere Ministerämter bekleidete, auf den Tempelberg in Ostjerusalem spazieren, von einer ansehnlichen Zahl an Sicherheitskräften begleitet. Mit dieser Provokation löste er die zweite Intifada aus. Für den Friedensprozess bedeutete das den Todesstoß, für Scharon aber das Amt des Ministerpräsidenten im darauffolgenden Jahr.

Scharon ist wie kaum ein anderer für die Metastasierung des Westjordanlandes durch israelische Siedlungen verantwortlich. Er, der selbst Großgrundbesitzer war, galt als Hardliner und als wichtigster Exponent der Siedlerbewegung. Unter seiner Ägide wurde mit dem Bau einer 720 Kilometer langen Sperranlage begonnen, die schon seinerzeit Rabin angeregt hatte und mit der das Westjordanland von Israel abgeriegelt wurde. Das Perfide an der Sperranlage ist, dass sie nur selten entlang jener Grenze verläuft, die vor dem Jahr 1967 Israel von dem damals jordanisch besetzten Westjordanland trennte, sondern zum Teil tief im palästinensischen Autonomiegebiet. Dadurch wurde den Palästinensern weiteres Land abgezwackt, wurden weitere palästinensische Bauern enteignet.

Was den Gazastreifen betrifft, so kündigte Scharon im Jahr 2003 an, die israelischen Siedlungen im Gazastreifen zu räumen. Der militärische Aufwand, die Sicherheit der israelischen Siedler in einer ihnen feindlichen Umgebung zu gewährleisten, war zu groß geworden. Wessen Geistes Kinder am Werk waren, illustriert die Tatsache, dass nach dem Abzug der Siedler alles, was sie errichtet hatten, geschleift wurde. Nichts sollte den Palästinensern überlassen werden. Nur die Synagoge ließ man stehen, gleichsam als Salz in die palästinensischen Wunden. Selbstverständlich wurde nach dem Abzug auch der Gazastreifen eingezäunt.

Mit Arafat, dem Bill Clinton und die israelischen Ministerpräsidenten Rabin, Perez und Barak die Hand gereicht hatten, wollte sich Scharon nicht abgeben. Inzwischen war unter dem neuen amerikanischen Präsidenten George Bush der Irak überfallen und zerbombt worden. Scharon lehnte Arafat, der lautstark für Saddam Hussein Partei ergriffen hatte, als Gesprächspartner ab; er sorgte dafür, dass er international isoliert wurde und stellte ihn in seinem teilweise von den Israelis zerbombten Hauptquartier in Rahmallah unter Hausarrest. Erst kurz vor seinem Tod wurde Arafat gestattet, nach Paris zu reisen und dort ärztliche Hilfe zu suchen.

Der Entschluss, aus Gaza abzuziehen, wurde Scharon von seinen extremistischen Anhängern sehr verübelt. Er beendete daher die Koalition mit der extremen Rechten und ging mit der Arbeiterpartei unter Ehud Olmert eine neue Koalition ein. Auch innerhalb der eigenen Partei bekam er starken Gegenwind, vor allem von Israels späterem Langzeitpremier, dem Likudführer Netanjahu, der 2005 als Scharons Finanzminister zurücktrat, als mit dem Rückzug aus Gaza begonnen wurde. Darauf kündigte auch Scharon seinen Rücktritt und Neuwahlen an, trat aus dem Likud aus und gründete seine eigene Partei.

Zuviel Aufregungen für den alten Haudegen. Er erlitt Ende 2005 eine Reihe von Schlaganfällen, musste eine Reihe von Operationen hinnehmen und fiel ins Wachkoma, aus dem er bis zu seinem Tod im Jahr 2014 nicht mehr erwachte. Sein unrühmliches Ende müssten die wahrhaft Religiösen eigentlich als Menetekel, als eine Strafe Gottes ansehen . . .


15. Nachwort

Ich möchte meine doch sehr persönliche Geschichte Israels hier abbrechen. Sie ist entstanden aus dem Wunsch, meine fragmentarischen, bis in meine Kindheit zurückreichenden Erinnerungen durch entsprechende Recherchen zu einem wenigstens für mich sinnvollen Ganzen zu ergänzen und insbesondere jene ihrer Teile zu beleuchten, die sich vor meinem wachen Leben in Israel zugetragen haben. Dabei war ich bemüht, sie niederzuschreiben ohne die Notwendigkeit, meine Feder tief in die schwarze Tinte des Hasses tauchen zu müssen. Ich war bemüht, einigermaßen gerecht zu bleiben und zwischen den Zeilen immer wieder vorsichtige Sympathie durchschimmern zu lassen für ein Land, das nur ein Jahr älter ist als ich selbst. Das aber ist mir in zunehmendem Maß unmöglich geworden, je näher sich meine Erzählung der finsteren Gegenwart dessen nähert, was im Augenblick in Israel geschieht und je mehr meine persönliche Betroffenheit darüber wächst. Wo aber Hass ist, dort ist kein Platz mehr für Clio. Die Muse entflieht in lichtere Gefilde. An ihren Platz aber treten Gäste aus dem Inferno: die düsteren Erinnyen.

ethos.at bedankt sich für die exklusive Online-Widergabe des Buches

Hans Saenger „Kleine Geschichte Israels“

© Hans Saenger, Privatdruck 2024

Lektorat: Barbara Schaefer