Kleine Geschichte Israels - 2. Anfang im osmanischen Reich

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2. Anfang im osmanischen Reich

Eine traditionelle Zufluchtsstätte der in Europa verfolgten Juden war das osmanische Reich. So gingen gegen Ende des 15. Jahrhunderts viele aus Spanien und Portugal vertriebene Juden ins osmanische Exil, und zwar auf Einladung des osmanischen Sultans. Der vielleicht berühmteste Nachkomme dieser jüdischen Exilanten war Elias Canetti, Nobelpreisträger für Literatur. Auch in Palästina gab es daher schon lange vor der zionistischen Landnahme kleine jüdische Gemeinden. Im Jahr 1860 umfassten sie rund 12.000 Menschen. Sie sprachen arabisch oder judenspanisch, einen Dialekt, der sich zum Spanischen verhält wie das Jiddische zum Deutschen. Mit den Arabern lebten sie in Frieden.

Vor diesem Hintergrund ist es verständlich, dass um das Jahr 1900 viele von Pogromen heimgesuchte osteuropäische Juden, die meisten von ihnen Untertanen des russischen Zaren, Europa verließen und sich auch im osmanischen Reich ansiedelten, vor allem in Palästina, dem Land der jüdischen Sehnsucht.

Begonnen hat die jüdische Einwanderung aus Europa bereits in der letzten Dekade des 19. Jahrhunderts, als einige tausend Juden nach Israel kamen und dort, von der Familie Rothschild finanziell unterstützt, landwirtschaftliche Mustersiedlungen errichteten.

Die Geschichte des Staates Israel ist eng mit der sogenannten Kibbuz-Bewegung verbunden. Nachdem in Russland 1905 die Revolution vorerst gescheitert war, wanderten 40.000 junge russische Juden nach Palästina aus, mit kommunistischen oder anarcho-sozialistischen Ideen als ideologisches Reisegepäck. In Nordpalästina, in der Nähe des Sees Genezareth, wurden von diesen Einwanderern die ersten Kibbuze gegründet. Zionisten, also solche, die in Palästina einen jüdischen Staat gründen wollten, waren diese Pioniere nicht: Anarchismus und Staat vertragen sich schlecht. Und nicht zuletzt hätte das die osmanische Reichsmacht herausgefordert.

Die Kibbuze waren landwirtschaftliche Genossenschaften, darin den späteren Kolchosen in der Sowjetunion ähnelnd, aber ohne die Fuchtel eines übergriffigen Staates im Hintergrund. Den Boden, den die Kibbuzniks1 bewirtschafteten, hatten sie gekauft, nicht erobert. Man war bestrebt, möglichst autark zu sein, man war wachsam und bereit, den Kibbuz nach außen zu verteidigen. Reibungen mit den Arabern gab es zwar schon damals, denn der Boden, den die Juden gekauft hatten, gehörte zuvor meist arabischen Großgrundbesitzern und war an arabische Bauern verpachtet gewesen. Doch diese Pächter mussten weichen, denn die Kibbuzniks wollten ihren Boden selbst bewirtschaften. Als Menschen, die in Europa vom Bodenbesitz traditionell ausgeschlossen waren, versprachen sie sich vom Kontakt mit der eigenen Erde die eigene Gesundung. Auf freiem Grund wollten sie stehen, ein freies Volk wollten sie werden, wehrhaft wollten sie sein, und von ihrer Hände Arbeit wollten sie leben. Es gab also Reibereien, doch dünn besiedelt, wie das Land damals noch war, hielten sich diese in Grenzen.

Die ideologische Ausrichtung dieser jüdischen Siedler kann man eine sozialistisch-anarchistische nennen. Man war zwar Untertan des Sultans, doch die Osmanen waren bequeme Herren, die mit sich reden ließen, solange man seine Steuern zahlte und ihre Herrschaft nicht bedrohte; solange man also arbeitete und das zuvor recht öd gewesene Land zum Blühen brachte. Und das taten die Kibbuzniks. Waren sie religiös? Nun sie waren, wie mir scheint, eher Atheisten und Juden nur in dem Maße, wie man heute bei uns Christ ist. Nur eine kleine Minderheit geht bei uns noch in die Kirche, doch die kirchlichen Feste wie Weihnachten oder Ostern werden noch immer von den meisten gefeiert.

Alles in allem waren diese Siedler Pioniere im besten Sinne des Wortes. Im rückständigen Vielvölkerreich der Osmanen waren sie ein fortschrittliches Element, das den Jungtürken, wie man die damaligen Machthaber im osmanischen Reich nannte, willkommen war, weil es deren erklärtes Programm war, die Rückständigkeit ihres Reiches gegenüber Europa zu verringern. Im Gegensatz zu den Siedlern, die sich heute auf der Westbank ausgebreitet haben, gilt diesen Pionieren meine Sympathie. Es war die von ihnen getragene Kibbuzbewegung, die das positive Bild prägte, das ich, der ich von slowenischen Rosentaler Subsistenzbauern abstamme, in meiner Jugend von Israel hatte. Wenn man dem kommunistischen Ideal irgendwo und irgendwann auf der Welt nahegekommen ist, so war es hier.

Die Idylle dauerte nur wenige Jahre. Vermehrt kamen Juden ins Land, die ein anderes ideologisches Reisegepäck mitbrachten als die anarcho-sozialistischen Kibbuzniks, nämlich den Zionismus. Im 19. Jahrhundert hatte in Europa der Nationalismus Orgien gefeiert ― da wollten auch viele Juden nicht zurückstehen und glaubten, wie zuvor die Italiener oder die Deutschen, ihr Heil in einem eigenen Staat finden zu müssen. Ideologisch unterfüttert wurde das Projekt der Staatsgründung von Theodor Herzls berühmtem, 1896 erschienenen Buch „Der Judenstaat“. Die erste Bruchlinie in der jüdischen Besiedlung Palästinas tat sich damit auf. Man schaue sich nur Fotos von den damaligen Kibbuzniks an, vergleiche sie mit den Fotos der führenden Zionisten, und man wird verstehen, was ich meine: hier die einfach gekleideten fröhlichen Kibbuzniks mit ihren von Wind und Sonne gebräunten Gesichtern, mit ihren schwieligen, von Krampen und von Spaten breitgewordenen Händen, dort die bourgeoisen Zionisten, angetan mit Frack, steifem Kragen und selbstverständlich mit Zylinderhut.

Das zweite, die anarchistische Idylle störende, ja zerstörende Ereignis war der Ausbruch des Ersten Weltkriegs in Europa, als die europäischen Nationen übereinander herfielen und der Nationalismus seine blutige Fratze enthüllte. In den Strudel des Krieges geriet auch das mit den Mittelmächten verbündete osmanische Reich, denn es wurde von den europäischen Kolonialmächten England und Frankreich, aber auch von seinem Erzfeind Russland angegriffen. Schon lange nannte man es den kranken Mann am Bosporus, jetzt wollte man es zerschlagen und sich an seinen Trümmern gütlich tun.

Das Reich der Osmanen war noch immer riesig, obwohl es im 19. Jahrhundert mit Ägypten die letzte seiner nordafrikanischen Besitzungen verloren hatte, in den 1912 und 1913 ausgefochtenen Balkankriegen aber den Großteil der ihm verbliebenen europäischen Provinzen. Auch Bosnien gehörte nicht mehr zum Reich, denn es wurde von der Habsburger Monarchie im Jahr 1878 okkupiert, im Jahr 1908 aber annektiert. Am Vorabend des Ersten Weltkrieges umfasste das osmanische Reich neben der heutigen Türkei das Gebiet der heutigen Staaten Syrien, Libanon, Israel, Jordanien und Irak. Auch ein Teil des heutigen Saudi-Arabien stand noch unter der Oberherrschaft der Osmanen, und zwar der Hedschas, wie man den westlichen, an das Rote Meer grenzenden Teil des heutigen Saudi-Arabien nennt, in dem der Islam seinen Ausgang nahm und wo sich seine heiligen Städte Mekka und Medina befinden. Beherrscht wurde der Hedschas seit beinahe tausend Jahren von den sogenannten Scherifen von Mekka, freilich nie ganz souverän, sondern immer unter wechselnder Oberherrschaft. 1914 stand das Gebiet also unter der nominellen Oberherrschaft der Osmanen, als Großscherif von Mekka aber herrschte Hussein ibn Ali, ein Spross der Haschimitendynastie, die ihre Abstammung bis auf den Propheten Mohammed zurückführen konnte. Er und seine Söhne sollten im Nahen Osten noch eine große Rolle spielen.

Da der osmanische Sultan zugleich auch Kalif war, also das religiöse Oberhaupt des Islam, war die Herrschaft über den Hedschas für sein Prestige von großer Bedeutung. Freilich war das osmanische Reich groß und der Sultan in Istanbul zweitausend Meilen von Mekka entfernt, und das in einer Zeit ohne die modernen Verkehrs- und Nachrichtenverbindungen von heute. Die Scherifen von Mekka waren deshalb für die Osmanen das, was man anderenorts unsichere Kantonisten nennt. Um sich ihre Loyalität zu sichern, nahmen sie daher immer wieder Mitglieder der Herrscherfamilie als Geiseln. So hatte auch Hussein ibn Ali seine Jugend in Istanbul verbracht, ja verbringen müssen.